Fiacha-Story, Teil 3

 

Der Cystir

 

Fiacha träumte von einem Cystír.
Eingehüllt in einen hellblauen Nebel schwebte der aquamarinblaue Kristall vor ihr. Sanft, beinahe liebevoll übermittelte er der jungen Hügelfrau Nachrichten, - nicht in Worten, sondern Bildern und Gefühlen. Fiacha verstand die Nachrichten nicht, aber sie waren schön und angenehm. Sie wechselten rasend schnell und ihr schien, daß der Cystír ihr Bilder aus längst vergangener Zeit zeigte, - doch ihr Verstand konnte die Bilder und Informationen nicht erfassen.
Dann entstanden plötzlich Bilder, die ihr bekannt vorkamen, und sie stellte schließlich fest, daß es Bilder aus ihrem eigenen Leben waren: ihre Geburt, ihre Kindheit, Jugend, das Erwachen der Zeitmagie, ihre Reise… Und dann standen die Bilder still!
Sie sah sich in einem großen Bett auf weichen Kissen liegen, sanft schlummernd. Sie hörte leise Musik und sah sich lächeln.

Als Fiacha erwachte, fühlte sie sich ausgeruht und wie ein neuer Mensch. Das erste, was ihre Augen erblickten, war die Decke ihres Gemachs, und sie studierte die Jagdszenen, die dort gemalt waren. Ein bärtiger Jaeger mit einem langen Speer bewaffnet, lauerte hinter einem Busch einem Hirsch auf. Ein anderer, in Fellen gekleideter Mann stand mit einem großen Messer einem Bären gegenüber, dessen Fang weit aufgerissen und die Pranken erhoben waren. Eine Frau, ganz in grün gekleidet, trug einen Falken auf dem rechten Arm, dessen Kopf mit einer Haube verhüllt war….
Fiacha, die junge Jägerin, lächelte. Arkan hatte ihr bestimmt absichtlich dieses Zimmer gegeben.
Sie sprang aus dem Bett und schaute sich um. Ihre Kleidung lag frisch gewaschen am Fußende des Bettes, eine Waschschüssel stand auf einem kleinen Tischchen bereit, daneben lag ein Handtuch.
Und jetzt erst vernahm sie die Musik!
Fiacha lauschte angestrengt, um festzustellen, woher die Musik kam, - aber sie konnte die Richtung nicht genau bestimmen. Die Töne schienen von überall her zu kommen. Es war kein Gesang, sondern ein Musikstück, gespielt mit Flöte, Geige und einem weiteren Instrument, das Fiacha nicht kannte. Leise summte Fiacha die Melodie mit, während sie sich wusch und ankleidete.
Als hätte sie auf diesen Moment gewartet, erschien plötzlich das Wechselbalg-Mädchen an der Türe. In diesem Moment hörte auch die Musik zu spielen auf.
"Guten Morgen," sagte das Mädchen mit einer hellen und fröhlichen Stimme.
Fiacha grüßte freundlich zurück.
"Der Hügelprinz wünscht mit Euch zu frühstücken," sagte sie, "Wenn Ihr fertig seid, werte Dame, und die Güte hättet, mir zu folgen…?"
"Aber gerne," antwortete Fiacha.
Während das Wechselbalg-Mädchen die junge Hügelfrau durch die verwirrenden Gänge des Palastes führte, erkundigte Fiacha sich nach ihrem Namen.
"Mein Name ist Clarisse!" Und auf ihre Fragen hin, erzählte das Mädchen, daß der Hügelprinz sie und ihren Bruder Morgan vor langer, langer Zeit aus der Oberwelt errettet hatte. Clarisse und ihr Bruder waren von ihrem Vormund mißhandelt und geschlagen worden, und als sie versucht hatten zu fliehen, trafen sie glücklicherweise auf Arkan. Dieser hatte Mitleid mit den armen Kindern und nahm sie in sein Hügelreich mit. Morgan und sie arbeiteten nun im Palast
"Er hat ein gutes Herz, der Prinz," stellte Fiacha fest.
Clarisse lächelte. "Oh ja, das hat er. Aber," und sie kicherte kurz, "er kann auch manchmal unausstehlich sein. Vor allem, wenn er mit seinem Bruder eine ganze Nacht oder mehr durch gezecht hat und ihn Kopfschmerzen plagen."
Fiacha stimmte in Clarisses Lachen mit ein. "Das kann ich mir vorstellen. Aber sagt," fügte sie hinzu, "woher kam die Musik, die ich in meinem Gemach hörte?"
Wieder lächelte Clarisse.
"Das ist eine Idee des Hügelprinzen. Auf diese Art läßt er seine Gäste wecken. Ich weiß nicht, wie er es macht, - aber die Musik kommt aus den Wänden und Decken. Er sagt, das sei eine angenehmere Art geweckt zu werden als durch Gongschläge oder so etwas."
"Und recht hat er," bemerkte Fiacha.

Als sie den Speisesaal betrat, stand Arkan E'dhelcu vom Tisch auf und kam auf Fiacha zu. Ihr entging nicht die dunkel gekleidete Gestalt des Gardisten im Hintergrund, der ernst und aufmerksam den Hügelprinzen beobachtete. Fiacha nickte ihm grüßend zu, doch er schien sie zu ignorieren.
Clarisse verabschiedete sich höflich und verschwand wieder durch die Tür.
"Guten Morgen, kleine Jägerin," grüßte Arkan sie mit einem breiten Lächeln auf dem bärtigen Gesicht. "Ich hoffe, Ihr habt gut geschlafen?"
Fiacha nickte. "Danke, sehr gut," antwortete sie. "Und ich bin auch wunderbar geweckt worden."
Arkan grinste offensichtlich zufrieden.
"Eine tolle Erfindung, nicht wahr?" Er zwinkerte Fiacha schelmisch zu. "Nur mich weckt es absolut nicht. Ich schlafe bei Musik immer wieder ein. Da sind leider andere Maßnahmen nötig, um mich wach zu bekommen."
"Die da wären?" fragte sie grinsend zurück.
Aber Arkan legte nur verschwörerisch einen Finger auf den Mund.
Er führte sie an den Tisch, der reichlich gedeckt war. Es waren Speisen aufgetischt, die Fiacha noch nie gesehen, geschweige denn gegessen hatte, - und sie rochen verführerisch.
Fiacha hatte gerade Platz genommen, da betrat auch Jethro Cunack den Speisesaal.
"Morgen zusammen," grüßte er.
Fiacha nickte ihm freundlich zu, erwiderte den Gruß, - und konnte sich ein breites Grinsen nicht verkneifen. Cunacks eindrucksvolle Gestalt, gekleidet in weiten dunklen Hosen und einem blutroten Hemd, die langen, grauen Haare ordentlich zu einem Pferdeschwanz zusammengebunden, näherte sich dem Tisch aufrecht und scheinbar ohne Probleme. Fiacha jedoch entgingen nicht die leicht geröteten Augen und die sparsamen Kopfbewegungen Jethros.
"Guten Morgen, kleiner Bruder," krakeelte Arkan, "setz' dich und frühstücke mit uns."
Weder Arkan, noch Fiacha entgingen das Funkeln in Jethro Cunacks Augen und der böse Blick, den er dem Hügelprinzen zuwarf.
Aber er blieb höflich. "Danke dir, Arkan!"
Kaum, daß der Oberweltler Platz genommen hatte, tauchten plötzlich von allen Seiten Bedienstete auf. Während Fiacha etwas verwirrt war, schienen Arkan und Jethro die um sie herum schwirrenden Personen nicht zu sehen. Sie nickten den Bediensteten zu, verneinten, dankten, - aber sie schienen sie nicht wirklich zu bemerken.
Und während Jethro das Frühstück schweigend einnahm, machte Arkan einige erklärende Bemerkungen hinsichtlich Herkunft und zum Teil sogar Herstellung, wenn Fiacha ganz offensichtlich mit der Bestimmung einer Speise oder eines Getränks überfordert war. Als sie schließlich fertig waren, und die Bediensteten das Geschirr vom Tisch genommen hatten, wurde eine kleine Tabakdose auf den Tisch gestellt. Arkan lehnte sich zufrieden rülpsend in seinem Stuhl zurück, holte eine Pfeife aus seiner Hosentasche und begann sie zu stopfen.
Fiachas Blick fiel auf Jethro, welcher ihr gegenüber saß, und sie hatte den Eindruck, daß auch dieser inzwischen seine Kopfschmerzen überwunden hatte, denn er lehnte sich lächelnd zurück. Er zog ebenfalls eine Pfeife hervor. Arkan grinste ihn an und schob die Tabakdose in seine Richtung.
Jethros Pfeife, so stellte Fiacha fest, war nicht aus Holz, so wie sie es kannte, sondern aus einem gelblichen Material, das ihr gänzlich unbekannt war.
"Was ist das?" fragte Fiacha scheu den großen Mann und zeigte auf die Pfeife.
"Eine Pfeife," antwortete Jethro schmunzelnd.
"Das sehe ich. Aber woraus ist sie gemacht?"
Jethro betrachtete seine Pfeife einen kurzen Moment lang, bevor er sagte: "Aus Meerschaum!"
Arkan, Fiachas verwirrten Blick bemerkend, fügte hinzu: "Das gibt's nur auf Magira und ist ein Meeresprodukt sozusagen."
Die beiden Männer zündeten ihre Pfeifen an und bliesen schweigend ein paar Ringe in die Luft.
Fiacha räusperte sich kurz und die beiden sahen sie freundlich an.
"Darf ich Euch eine Frage stellen?" fragte sie schüchtern.
"Aber sicher doch," murmelte Jethro.
"Nur zu," antwortete Arkan.
"Wie kommt es, daß Ihr Euch als Brüder bezeichnet?"
Während Jethros Mundwinkel nur zuckten, begann Arkan laut zu lachen.
"Wir sind tatsächlich Brüder," erklärte ihr der Hügelprinz.
"Halbbrüder," bemerkte Jethro.
"Wir haben den gleichen Vater," und Arkan erzählte Fiacha die Geschichte seines Vaters Arpad, welcher sich mit einer estron eingelassen hatte.
"Dann seid Ihr ja ein…ein Tuach na Moch!" bemerkte Fiacha erstaunt.
"Na ja," antwortete Jethro Cunack, "nur halb eben!"
Fiacha sah die beiden Männer abwechselnd an. Äusserlich bestand, so fand sie, überhaupt keine Ähnlichkeit. Doch Fiacha spürte das enge Band zwischen ihnen, - ein Band, das über Zeit und Raum hinweg bestehen bleiben konnte, egal was auch passieren mochte. Es war keine "Bruderliebe" im herkömmlichen Sinne, denn dafür waren sie einfach zu verschieden. Und doch, sie schienen sich wortlos zu verstehen, - auch wenn sie einander nicht unbedingt immer trauten. Ein eigenartiges Band…
Und so unglaublich die Geschichte Arpads auch war, - sie würde wohl stimmen.
"Aber anstatt alte Familiengeschichten aufzuwärmen," sagte Jethro, "sollten wir uns lieber mit Euch befassen, Fiacha." Und seine grau-grünen Augen schauten sie eindringlich an. "Ich werde heute, - Arkans Einverständnis vorausgesetzt -, mit Euch den Cystir-Raum betreten, um festzustellen, welche Magie noch so in Euch schlummert."
Arkan schaute seinen Bruder vorwurfsvoll an.
"Jethro," sagte er tadelnd, "das hat doch noch Zeit. Ich wollte ihr heute den Palast zeigen. Das habe ich ihr versprochen."
Cunack rollte mit den Augen und sagte: "Na gut, - zeige ihr erst den Palast. In der Zwischenzeit kann ich mich ja mal schlau machen, ob und welche Art von anderer Magie es noch im Hügelreich gibt, außer der bekannten Zeit- und Illusionsmagie. Ich darf doch Deine Bibliothek benutzen, oder?"
"Aber klar," grinste Arkan. Und an Fiacha gewandt, sagte der Prinz: "Und wir zwei Hübschen werden uns einen schönen Tag machen, während er die Arbeit erledigt."
Daraufhin tauschten die beiden Männer noch einige Neuigkeiten über Freunde und Feinde aus, sprachen über Politik und andere Dinge, von denen Fiacha nichts verstand, bis Arkan sich schließlich erhob.
"Nun, dann kommt mit, meine Liebe," sagte er fröhlich. "Machen wir einen Rundgang."
Fiacha nahm den ihr angebotenen Arm an, verabschiedete sich von Jethro Cunack und ließ sich von Arkan E'dhelcu den Kristallpalast zeigen, - stets verfolgt von der dunklen Leibwache des Hügelprinzen.

Immer wieder blieb Fiacha der Mund vor Staunen offen. Der Kristallpalast war das eindrucksvollste, das sie in ihrem jungen Leben bisher gesehen hatte, und sie schwor sich diesen Anblick niemals wieder zu vergessen. Wie der Name schon andeutete, bestand vieles im Palast aus glitzerndem Kristall. Aber das schönste war die Gartenanlage. Aus phantasievollen Springbrunnen sprudelte kristallklares Wasser, Blumen in allen Farben, und gigantische Bäume und Büsche gediehen in diesem Garten. Hier und da standen Statuen, aus weißem Stein gehauen. Auf ihre Frage hin, wen diese Statuen darstellten, breitete Arkan die Arme aus und meinte: "Eine ganze Menge Leute, die in der Geschichte unseres Hügelreiches mehr oder weniger wichtig waren. Helden, schöne Damen, die es verdienten, daß man ihnen ein Andenken setzte… Hier zum Beispiel ist ein Abbild meines Vaters Arpad."
Fiacha betrachtete das Denkmal, das dem Vater des Hügelprinzen gesetzt worden war, und schmunzelte. Arkan hatte äußerlich eine große Ähnlichkeit mit seinem Vater, doch wirkte Arpad größer, ernster und körperlich durchtrainierter als sein Sohn. Auf die Frage hin, ob Arkan ihr von seinem Vater erzählen würde, antwortete er grinsend: "Bei Gelegenheit vielleicht. Es ist einfach zu lange her, und da muß ich tief aus meinen Erinnerungen schöpfen. Und dazu habe ich an solch einem schönen Tag einfach keine Lust."
Fiacha beließ es dabei. Zunächst…
Die Rundführung nahm beinahe den ganzen Nachmittag in Anspruch, und gutgelaunt und entspannt kehrten Arkan und Fiacha in die Räume des Hügelprinzen zurück.
"Morgen," sagte Arkan heiter, "feiern wir hier im Palast ein Fest, und ich würde mich freuen, wenn du mich zu diesem Fest begleiten würdest."
"Aber ja, gerne," antwortete Fiacha lächelnd. "Es wäre mir eine Ehre."
"Papperlapapp," rief Arkan aus, "MIR ist es eine große Ehre!" Und dabei grinste der Hügelprinz breit auf seine charmante und gewinnende Art.
In den Räumen des Prinzen wartete Jethro Cunack schon, gebeugt über irgendwelche Aufzeichnungen und mit einem Krug Bier in der Hand.
Als die beiden eintraten, hob er kurz den Kopf.
"Na, da seid ihr ja endlich," grüßte er. "Und, Fiacha? Seid ihr bereit?"
"Halt, Bruder," wehrte Arkan ab. "Nicht so eilig. Laß uns erst etwas essen, trinken und uns ausruhen. Du weißt doch, - wir haben viel Zeit im Hügelreich."
Jethro rollte mit den Augen, schüttelte den Kopf, gab aber darauf keine Antwort.

Fiacha wußte nicht, wieviel Zeit inzwischen vergangen war, - Waren es Tage oder Wochen? - aber dem Hügelprinzen fiel immer wieder etwas Neues ein, das er der jungen Hügelfrau zeigen oder mit ihr unternehmen wollte. Arkan zeigte ihr Cor Dhai und sie besuchten verschiedene Märkte. (Arkan ließ es sich nicht nehmen, Fiacha feine Stoffe für Kleider zu kaufen; jedoch lagen die Stoffe fein säuberlich zusammengelegt in Fiachas Zimmer, da sie selbst nicht nähen konnte und einfach keine Zeit fand, einen Schneider aufzusuchen) Sie feierten Feste miteinander (und derer gab es viele im Kristallpalast), lauschten den Geschichtenerzählern und Barden, und einmal flog er sogar mit ihr nach Cor Finias und wieder zurück. (Fiacha war heilfroh gewesen, daß ein anderer morior und nicht Brador Dienst tat!)
Jethro nutzte in der Zeit die Gelegenheit, um seiner Heimat wieder einen Besuch abzustatten. (Das war jedenfalls die offizielle Erklärung!)
Irgendwann jedoch tauchte der Oberweltler wieder im Kristallpalast auf und drängte Arkan, daß er endlich Fiachas Fähigkeiten unter die Lupe nehmen wollte.
"Tu, was du nicht lassen kannst," meinte Arkan nur, und Jethro gab Fiacha mit einem Wink zu verstehen, daß sie ihm folgen sollte. Sie spürte plötzlich ein unangenehmes Gefühl in der Magengegend, als sie neben dem estron herging. Jethro wirkte sehr ernst, und das machte sie nervös.
Auf dem Weg zum Cystir-Raum schaute Jethro Cunack die kleine Frau belustigt von der Seite an.
"Und, wie gefällt Euch der Palast?" fragte er im Plauderton.
"Gut!" antwortete Fiacha. "Bald verlaufe ich mich nicht mehr." Und sie lächelte den großen Mann nervös an.
"Ja, ich habe schon gehört, daß Arkan unglaublich viel Zeit mit Euch verbringt."
Fiacha meinte einen stichelnden Unterton in seiner Stimme gehört zu haben, und das Lächeln in ihrem Gesicht verschwand.
"Ja, und?"
"Nichts," erwiderte Jethro mit hochgezogenen Augenbrauen. "Es ist nur…" er zögerte kurz. "Es gibt da so Gerüchte."
Fiacha wollte zuerst aufbrausen und ihm eine passende Antwort geben, überlegte es sich jedoch anders.
"Gerüchte?" flötete sie. "Was denn für Gerüchte?"
"Nun ja, es sind Gerüchte im Umlauf, daß der Hügelprinz ausgesprochen viel Zeit mit Euch verbringt."
"Das ist kein Gerücht, Jethro," antwortete Fiacha. "Das ist Tatsache! Aber was wollt Ihr damit andeuten?"
Jethro räusperte sich kurz.
"Ich glaube, es steht mir nicht zu, Euch zu sagen, was man sich hier im Palast alles erzählt."
Fiacha blieb stehen.
"Wenn Ihr schon diese Andeutungen macht, dann könnt Ihr mir auch alles erzählen," forderte sie ihn auf.
Jethro drehte sich zu ihr um und sah sie ernst an.
"Fiacha, ich möchte Euch nicht verletzen oder Euch eventuell gehegte Hoffnungen nehmen…"
"Welche Hoffnungen?" Sie kniff die Augen zusammen und blinzelte Jethro böse an.
"Hoffnungen auf Arkan," sagte der Halbbruder des Hügelprinzen knapp.
Fiacha war zunächst sprachlos.
"Hoffnungen auf Arkan?" wiederholte sie fragend.
"Hoffnungen auf Arkan und seinen Titel!" fügte Jethro hinzu.
Wieder wollte Fiacha explodieren, und nur mit Mühe gelang es ihr, die Fassung zu wahren.
"Glaubt Ihr das, Jethro?" zischte sie.
Der Mensch schüttelte den Kopf. "Ich schere mich nicht um Gerüchte. Ich wollte Euch nur darauf aufmerksam machen, daß man über Arkan und Euch tuschelt. Man vermutetet die bösartigsten Dinge, - Ihr wolltet Euch an den Hügelprinzen ranwerfen, Ihr wolltet ihm den Kopf verdrehen, um seine Frau werden zu können, Ihr wäret ein Emporkömmling, die innerhalb kürzester Zeit eine Menge Privilegien genieße…. Soll ich wirklich fortfahren?"
Fiacha schaute Jethro tief in die Augen. Wieder hatte sie das Gefühl darin zu versinken, aber sie hielt seinem Blick stand.
"Ich glaube, ich habe verstanden," antwortete Fiacha kühl und wandte sich zum gehen.
Jethro folgte ihr, und schweigend gingen sie weiter.
"Danke für Eure Ehrlichkeit," sagte Fiacha plötzlich.
Jethro Cunack blickte auf die kleine Frau herab und ein Zucken umspielte seine Mundwinkel.
"Gern geschehen!"
Innerlich wäre Fiacha am liebsten explodiert. Sie war verletzt! Wie konnten die Leute nur so etwas sagen? Aber auf der anderen Seite, das gab sie zu, mußte es auf die Leute genau so gewirkt haben. Da kommt plötzlich ein Niemand, eine Jägerin aus den Wäldern Cor Finias', und freundet sich mit dem Hügelprinzen an. Sie genoß Privilegien, von denen sie früher nicht einmal zu träumen gewagt hatte. Für einen kurzen Moment fiel ihr Dawwyd, ihr Jugendfreund, ein. Er hatte damals auch so etwas behauptet, - daß Arkan ihr den Kopf verdreht hätte, und daß sie deshalb plötzlich die Ambitionen hatte etwas "besonderes" werden zu wollen.
Damals waren sie wegen dieser Sache im Streit auseinander gegangen.
Traurig, aber bestimmt faßte sie einen Entschluß.
Endlich erreichten Jethro und Fiacha den Cystir-Raum. Wachen, - große, ernst dreinschauende Männer in Kristallrüstungen - standen vor einer hohen hölzernen Tür.
"Wer begehrt Einlaß?" fragte einer der Wachen, und Jethro antwortete mit lauter Stimme: "Ich, Jethro Cunack, Sohn Arpads und Bruder des Hügelprinzen!"
Die Wachen schienen sich zu entspannen, denn sie lächelten den Oberweltler plötzlich an.
"Jethro Cunack, lange nicht mehr gesehen!" grüßte der Cystìror.
"Mandror, alter Junge, wie geht's?" antwortete Jethro.
Und wieder wunderte Fiacha sich, wie bekannt und offensichtlich beliebt Jethro im Hügelreich war.
"Gut, kann nicht klagen. Obwohl die Arbeit nicht sehr abwechslungsreich ist," plauderte Mandror, und sein Kollege, Farador, warf ein: "Ja, und mehr Lohn haben wir auch nicht bekommen."
Mandror und Farador klagten Jethro kurz ihr Leid, dann unterhielten sie sich noch ein wenig über das bevorstehende Samhain-Fest. Schließlich erläuterte Jethro den Wachen, warum er den Cystìr-Raum betreten wollte.
Die Wachen beäugten Fiacha zunächst mißtrauisch, dann jedoch amüsiert. An ihrem Grinsen erkannte Fiacha, daß auch ihnen die Gerüchte zu Ohren gekommen waren, und sie bemühte sich freundlich zu schauen.
Bevor Jethro die Tür öffnete wandte er sich noch einmal zu Fiacha um.
"Seid gewarnt. In diesem Raum kann keine Zeitmagie gewirkt werden. Es könnte also sein, daß Ihr Euch erst, hhhm, etwas unwohl fühlt, je nachdem wie stark Eure magische Fähigkeit ist."
Fiacha nickte nur, und Jethro betrat den Cystìr-Raum als erster. Sie folgte ihm zögerlich.

Eine Welle der Übelkeit überkam Fiacha, als sie den Raum betrat, und sie brauchte einen Moment, um die Orientierung wiederzufinden. Jethro, der das offensichtlich geahnt hatte, stützte sie am Ellenbogen.
"Alles in Ordnung?" fragte er.
Fiacha nickte.
Sie schaute sich um. In diesem spitz zulaufenden Raum hing ein Cystìr, genauso wie Fiacha ihn schon vor ihrem geistigen Auge gesehen hatte. Aquamarin schimmernd und pulsierend schwebte er in der Luft, und sie hatte das Gefühl, den Blick von diesem wunderschönen Kristall nicht abwenden zu können. Wie schon einmal zuvor spürte sie, daß der Kristall lebte. Und er schien ihr etwas mitteilen zu wollen, aber sie konnte nichts hören, - nur fühlen.
Plötzlich war der Raum von einem leisen Summen erfüllt. Der Cystìr pulsierte immer schneller, bis er schließlich hellblau strahlte.
Fiacha spürte, daß Jethro sie beobachtete, - und sie sah Bilder vor sich. Soweit sie es verstand, waren es Bilder aus Jethros Erinnerungen. Sie sah ihn in diesem Raum, schreiend und sich vor Schmerzen krümmend; sie sah Arkan, der sich über seinen Bruder beugte; sie sah ein tosendes Meer vor sich und einen Mann, der in einer dunklen Gasse Schutz suchte. Zu ihrem Schrecken sah sie ein Schattenwesen, ein dunkles Etwas, das sich über Jethro beugte, und er schrie.
Fiacha hielt sich die Ohren zu. Als sie die Hände wieder herunternahm, war es still im Cystìr-Raum. Die junge Hügelfrau zitterte am ganzen Leibe und zog ihren Umhang fester um sich. Sie schaute Jethro Cunack fragend an.
"Wer oder was seid Ihr, Jethro?"
Dieser hob verdutzt die Augenbrauen, als verstünde er die Frage nicht.
Langsam und mit zitternder Stimme berichtete Fiacha, was sie gesehen hatte.
Jethro sagte kein Wort, wandte sich um und schien tief in Gedanken versunken. Fiacha jedoch spürte den Schrecken, der in den Mann gefahren war. Er richtete sich auf, atmete tief durch und drehte sich wieder um.
"Fiacha," seine Stimme war todernst wie der Blick, mit dem er sie bedachte. "Dieses Geheimnis kannten bisher nur mein Bruder und ich." Er seufzte. "Und den Göttern sei Dank, einiges davon gehört nun der Vergangenheit an."
Fiacha räusperte sich zaghaft. "Ihr braucht nicht darüber zu sprechen, wenn Ihr nicht wollt, Jethro."
Sie konnte seine Erleichterung und Dankbarkeit förmlich sehen.
Jethro richtete sich auf und sagte mit nun etwas festerer und lauter Stimme: "Was Euch anbetrifft, Fiacha, so glaube ich erkennen zu können, welche Art der Magie Ihr beherrscht. Ihr seid in der Lage die Erinnerung anderer Wesen zu, hhhhm, sagen wir mal, zu erspüren." Jethros Gesichtszüge hellten sich wieder auf. "Das ist eine mächtige Magie, - und vor allem eine sehr nützliche! Das muß geschult werden, damit Ihr diese Fähigkeiten bewußt und kontrolliert einsetzen könnt."
Fiacha lächelte zaghaft ob des Enthusiasmus, den Jethro plötzlich an den Tag legte.
"Überlegt einmal, was Ihr damit alles anfangen könnt!" fuhr er fort und ging im Cystìr-Raum auf und ab.
Aber Fiacha hörte ihm kaum zu. Ihr Blick fiel auf den Cystìr4, doch dieser pulsierte jetzt so wie immer, - ruhig und für den Betrachter beinahe einschläfernd. Sie zwang sich Jethro Cunack zuzuhören.
"….politische Verhandlungen führen, ohne befürchten zu müssen, über's Ohr gehauen zu werden," sagte dieser gerade.
"Jethro," lachte Fiacha beinahe befreit auf. "Haltet ein, - ich verstehe gar nichts von dem, was Ihr mir da sagt. Ich habe keine Ahnung von Politik, - und ehrlich gesagt, interessiert es mich auch nicht."
Jethro grinste sie an. "Als Arkans Freundin werdet Ihr Euch früher oder später dafür interessieren müssen. Ob Ihr wollt oder nicht!"
Sie schüttelte den Kopf. "Laßt uns gehen," schlug sie vor. "Dieser Raum scheint Euch nicht gut zu bekommen."
Erstaunt hielt Jethro inne. "Wieso das?"
"Ihr schmiedet bereits Pläne, obwohl Ihr nicht einmal wißt, wie stark meine, wie Ihr so schön sagt, Fähigkeit außerhalb dieses Raumes ist. Schließlich," gab sie zu Bedenken, "hatte ich diese Fähigkeit früher nicht, - erst als ich in die Nähe der cystìrach kam."
Sie öffnete die Tür und ließ dem verdutzten Jethro den Vortritt. Die Wachen standen stramm, und Mandror schloß die Tür hinter ihnen.
Während Jethro und Fiacha durch die Palastgänge schlenderten, erzählte die Hügelfrau von ihrem ersten Erlebnis mit einem Cystìr, - als sie damals die Stadt Cor Finias betreten hatte.
Damals? schoß es ihr durch den Kopf. Wie lange war das jetzt her? Ein Monat etwa?
"Mir scheint," grübelte Jethro, "daß es zwischen Euch und den cystìrach eine mentale Verbindung gibt, ähnlich die der Navigatoren der Fliegenden Schiffe."
"Seht Ihr?" lächelte Fiacha. "Ich bin dementsprechend nur nützlich, - so wie Ihr sagtet - wenn ich in der Nähe eines Cystìr bin."
"Richtig," stimmte Jethro ihr zu. "Es sei denn…."
"Es sei denn, was?" fragte Fiacha neugierig, als Jethro verstummte.
"Es sei denn, Ihr würdet einen páistacha cystírach erhalten." Und er schien sofort wieder ins Grübeln zu versinken.
Einen páistacha cystírach? dachte Fiacha aufgeregt. Diese "Kinder der Cystíre" waren kleinere Kristalle, die aus den cystírach geboren wurden, und für den, der ihn erhielt, eine große Auszeichnung. Fiacha hatte mal gelesen, daß es Artefakte und Waffen gab, in die solche páistacha cystírach eingearbeitet waren, und daß sie begehrte Gegenstände waren. Aber, so überlegte sie, wollte sie wirklich so etwas haben? Hatte sie so eine Auszeichnung überhaupt verdient? Wollte sie wirklich in der Lage sein, in den Erinnerungen anderer schnüffeln zu können? Sie hatte Jethros Erinnerungen gesehen, - und ihr war nicht wohl bei diesem Gedanken.
"Ich glaube nicht, Jethro, daß ich das möchte," sagte sie schließlich leise.
Der Oberweltler schaute sie zunächst erstaunt an. Aber er schien zu verstehen.
"Das ist selbstverständlich Eure Entscheidung," sagte er. "Aber denkt einfach mal darüber nach. Ich werde mit Arkan darüber sprechen, und….."
"Nein," unterbrach sie ihn. "Nein, ich möchte nicht, daß Ihr mit irgend jemandem darüber sprecht. Bitte!" fügte sie leise hinzu.
"In Ordnung!" antwortete der große Mann mit einem Kopfnicken. "Aber solltet Ihr jemals den Wunsch verspüren, dann…."
"….dann lasse ich es Euch wissen," beendete Fiacha den Satz. "Das werde ich!"
Im Einvernehmen gingen sie schweigend die Gänge entlang.

 

ENDE

 

estron = Oberweltler
morior = Navigator der Fliegenden Schiffe
Cystíror = Wächter der Cystíre

 

Fiacha III: Der Cystir
Fiacha
Carolin Gröhl

 

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Stand:30.09.2010