Die Frau am See

 

"Stirb, du Hexe!" schrie der Krieger wütend und hob die Streitaxt, um der jungen Frau, die zitternd vor ihm auf dem Boden saß, das Lebenslicht auszublasen.
Ihre grünen, tränenerfüllten Augen waren auf den Mann über ihr gerichtet, während sie langsam ihre Hände, die sie in ihrer Angst in den lehmigen Boden gekrallt hatte, hob, wie um den tödlichen Schlag abzuwehren. Sie schauderte, als die Energien durch ihren zerschlagenen Körper flossen, aber sie nahm jeden noch so kleinen Stromfluß, der sich ihr bot, in sich auf. Die Zeit schien still zu stehen.
Mit einem Mal war ihr Kopf völlig frei, sie spürte keinerlei Schmerzen mehr, und sie fühlte nichts mehr, - außer Haß! Abgrundtiefen, tödlichen Haß diesem einen Mann gegenüber.
'Hilf mir, Muttergöttin,' dachte sie, als sie die Energien, die sie in sich aufgenommen hatte, sammelte, bündelte und mit aller Kraft, die ihr noch zur Verfügung stand, auf den Mann warf.
Die Zeit schien nunmehr wie eine zähe Masse zu fliessen. Sie beobachtete, nicht ganz ohne Erstaunen, wie des Kriegers Axt auf sie niederging, doch bevor diese ihren Kopf traf, kippte der große Mann plötzlich nach hinten weg, so als hätte er das Gleichgewicht verloren. Sie sah den Blitz wie einen Wasserstrahl aus ihren Händen schießen, der ihn mitten ins Gesicht traf.
Nunmehr verging die Zeit blitzschnell, als die junge Frau sich zur Seite rollte, um der Axt, die trotzdem auf sie niederschoß, auszuweichen. Sie hörte ein kurzes Pfeifen, als die Axt an ihrem Kopf vorbei sauste.
Erschöpft und kraftlos sackte die junge Frau zusammen, und eine wohltuende Dunkelheit machte sich in ihrem Kopf breit.

Nur langsam löste sich ihr Geist aus der Bewußtlosigkeit, und sie hatte Mühe ihre verklebten Augen zu öffnen. Unter dem Zwitschern der Singvögel vernahm sie das Gekrächze von Krähen, und als sie es schließlich schaffte, die Augen zu öffnen, sah sie die schwarzen Vögel bedrohlich über sie kreisen. Sie lauerten auf ihren Tod.
'Noch nicht,' dachte sie schwach.
Als sie sich zur Seite rollen wollte, durchfuhren sie Schmerzen am ganzen Körper, und sie hielt in ihrer Bewegung inne. Sie versuchte ihre Atmung unter Kontrolle zu halten, um somit die Schmerzen zu dämpfen, und es gelang ihr, wenn auch nur unzureichend.
Ächzend setzte sie sich auf und sah sich um. Unmittelbar neben ihr lag eine verkohlte Leiche auf dem Boden, den schwarzen Mund weit geöffnet, in der linken Hand immer noch eine Streitaxt haltend. Sie hatte das Gefühl, sich übergeben zu müssen, als sie den Gestank schließlich wahrnahm, - aber dazu hatte sie keine Kraft mehr. Sie befahl ihrem Körper aufzustehen, und nach mehreren Anläufen gelang es ihr endlich.
Stolpernd und schwankend ging sie vorwärts. Sie sah nicht, wo sie hinlief, - sie wollte nur weg! Weg von dieser Lichtung, - in den Wald. Sie stützte sich an den Bäumen ab, wenn sie zu fallen drohte, den Blick unentwegt auf den weichen Waldboden gerichtet.
Sie wußte nicht, wie lange sie so durch den Wald gestolpert war, und sie wußte nicht wie weit sie gekommen war, aber schließlich vernahmen ihre Ohren ein Plätschern.
'Wasser!' dachte sie. 'Lebenspendendes Wasser!' Und sie stolperte in die Richtung, aus der sie das Plätschern vernommen hatte.
Am Ufer des kleinen Baches sank sie schließlich in die Knie. Mit zitternden Händen schöpfte sie etwas Wasser aus dem Bach und trank es. Ein weiteres Mal tauchte sie ihre Hände in das kühle und erfrischende Naß hinein und spritzte es sich ins Gesicht.
Erleichterung machte sich in ihr breit, - und sie begann zu weinen, bis die Dunkelheit sie wieder umarmte.

Als sie erneut erwachte, fror sie. Es war inzwischen Nacht geworden, und durch die Bäume hindurch sah sie die Mondsichel einer der beiden Monde ihrer Welt. Sie sah an sich herunter und wieder spürte sie die Schmerzen, die sich auf ihrem Körper ausbreiteten. Sie kühlte ihre Wunden mit dem klaren Wasser des Baches.
Sie sammelte etwas Holz und mit Hilfe ihrer Magie gelang es ihr schließlich, das Holz zu entzünden. Sie durchwühlte ihre Taschen, fand aber nichts Eßbares außer einem Stück Brot, das sie gierig verschlang. Morgen, bei Tagesanbruch, würde sie sich erst einmal etwas zu Essen besorgen müssen. Und Kräuter sammeln, um ihre Wunden zu versorgen.
'Aber was dann?' fragte sie sich.
Die Erinnerungen an die letzten Monde kamen wieder in ihr hoch, und sie begann leise zu weinen.
Es war noch nicht lange her, da sie ein unbeschwertes Leben in Stendior, einer kleinen Stadt am Fuße eines Berges, geführt hatte. Ihr Vater, ein wohlhabender Kaufmann, und ihre Mutter, eine Kräuterfrau, hatten ihr und ihren beiden Brüdern eine gute Erziehung und eine sorgenfreie Kindheit angedeihen lassen. Bis zu ihrem zehnten Sommer hatte man nichts eigenartiges oder besonderes an ihr entdeckt, bis sie anfing, die Energien in sich zu spüren. In regelmäßigen Abständen gelang es ihr diese Energien frei zu setzen, indem sie Feuer entfachte, wann sie es wollte, oder trübe Pfützen in süßes Trinkwasser zu wandeln.
Ihre Eltern bemerkten es und sprachen mit ihr darüber.
'Du hast besondere Fähigkeiten,' sagten sie, 'aber sei bitte vorsichtig, und zeige sie nicht jedem.'
Zwei Sommer später jedoch wurde ein Druide auf sie aufmerksam, und er sprach mit ihren Eltern. Er wollte sie in die Ausbildung nehmen, doch ihre Eltern wollten sie nicht gehen lassen. Sie schickten sie weit weg zu Verwandten, wo sie in der Obhut ihrer Tante zu einer jungen Frau heranwuchs.
Dann begannen die Kriege, und sie kehrte zu ihren Eltern nach Stendior zurück. Sie half ihrer Mutter, welche ja eine Kräuterfrau war, bei der Versorgung der verwundeten Krieger, die nach Stendior zurückkehrten, und verdiente sich somit einen Ruf als Heilerin. Nicht selten wandte sie ihre besonderen Fähigkeiten an, um den ein oder anderen zu retten.
Eines Nachts jedoch drangen Männer in das Haus ihrer Eltern ein. Sie zerrten die Familie aus ihren Betten, stellten ihrem Vater Fragen, und als dieser jedoch sich weigerte zu antworten, erschlugen sie ihn und ihre inzwischen erwachsenen Brüder. Ihre Mutter warf sich voller Verzweifelung auf die Männer, doch sie wehrten sie mit einem Schwerthieb ab. Als ihre Mutter zu Boden ging, hörte sie sie noch schreien: 'Verschont meine Tochter! Bitte, verschont meine Tochter!'
Die dunklen Männer nahmen sie mit in ihr Lager, und dort begegnete sie zum ersten Mal Corantor.
Die Erinnerungen an die Zeit danach hatte sie weitestgehend aus ihrem Gedächtnis verdrängt, denn sie waren zu schmerzhaft und voller Scham.
Sie wurde von Corantor, dem Hauptmann der feindlichen Truppen, gezwungen, sich tagsüber um seine verwundeten Krieger zu kümmern, während er sich ihrer des nachts annahm.
Mondelang weinte sie Nacht für Nacht auf ihrem Lager, und mondelang suchte sie nach einem Ausweg.
Eines Abends schließlich gelang ihr die Flucht.
Naiv, wie sie gewesen war, hatte sie nicht geglaubt, daß Corantor lange nach ihr suchen würde, - doch wie hatte sie sich geirrt. Was er einmal besessen hatte, gab er so schnell nicht wieder her, und er ließ sie gnadenlos jagen. Der Mann, den sie getötet hatte, war einer seiner Schergen gewesen.
Und sie wußte, er würde sie weiter hetzen lassen, - wenn es sein mußte, bis ans Ende der Welt! Denn sie war nicht nur eine Flüchtige, sondern auch eine Hexe.
Sie strich sich eine graue Strähne aus dem Gesicht, das inzwischen wieder tränenüberströmt war. Ihr Haar war, trotz ihrer Jugend ergraut, ein weiteres Markenzeichen, an dem jeder sie erkennen konnte. Sie fühlte sich leer und kalt, und sie zog ihren Mantel fester um sich.

Am nächsten Morgen schien die Sonne warm auf ihr Gesicht, und sie erwachte beinahe schon fröhlich, trotz der Albträume der Nacht. Sie erfrischte sich und begab sich auf die Suche nach etwas Eßbarem. Sie fand köstliche Walderdbeeren und junge Wurzeln und einige Kräuter. Gegen Mittag legte sie eine kleine Pause ein, um ihre Wunden zu versorgen. Für einen Moment überlegte sie, ob sie ihre Fähigkeiten zur Heilung an sich selbst anwenden sollte, doch sie entschied sich dagegen. Wer wußte schon, welche Auswirkungen dies haben könnte?
So wanderte sie etwa zwei Tage durch den Wald und ihr Körper konnte langsam genesen.
Am dritten Abend saß sie an einem See und genoß das laue Lüftchen, das über das spiegelklare Wasser wehte. Sie betrachtete ihr Gesicht im Wasser und stieß einen leisen Seufzer aus. Sie war immer noch hübsch, so fand sie, trotz der blauen Flecken, deren Farben sich nur langsam in grün und schließlich in gelb wandelten. Ihr graues Haar schimmerte im Mondlicht silbern und gab ihr eine überirdische Ausstrahlung. Sie lächelte ihr Spiegelbild an und weiße, gesunde Zähne kamen zutage. Ihr Blick fiel auf den See, der ruhig und einladend wirkte.
Sie stand auf und entkleidete sich langsam. Ihr geschundener, schlanker Körper strahlte hell im Mondlicht, und sie wirkte wie ein Geist. Wie in Trance bewegte sie sich auf den See zu.
'Es ist Beltain!' schoß es ihr durch den Kopf, und ihr Herz machte aus unerklärlichen Gründen einen Freudensprung.
'Muttergöttin,' dachte sie erleichtert, 'ich komme zu dir!'
Dann vernahm sie die sanfte Musik. Den lieblichen Gesang einer Frauenstimme, und sie frohlockte. Es wurde ihr warm ums Herz und Freudentränen schossen ihr in die Augen. Die Muttergöttin wartete auf sie…

Und noch jemand vernahm den Gesang, und er hob den Kopf. Arpad lauschte in die Nacht.
"Anamoch", sagte er leise. "wen willst du holen? Hier ist doch keine Menschenseele weit und breit!"
Doch dann hörte er ein leises Plätschern vom See her und er stand auf, um dem Geräusch nachzugehen.
Wie versteinert blieb er am Ufer stehen, als er die helle Frauengestalt dort im Wasser stehen sah. Sie war ein wunderschönes Menschenkind, und er war fasziniert von ihrem silbernen Haar, das ihr lang über den Rücken floß. Ihre kleinen, festen Brüste hoben und senkten sich leicht, und die Frau breitete ihre schlanken Arme aus, als wolle sie jemanden umarmen.
Erst in diesem Moment erkannte Arpad, was diese schöne Frau dort im Begriff war zu tun.
"Anamoch, nein!" rief der Hügelprinz und rannte los.
Doch er merkte bald, daß er die junge Frau nicht rechtzeitig erreichen würde, um sie zu retten, - und so ließ er die Zeit still stehen!
In diesem Moment tauchte vor ihm eine weitere Frauengestalt auf. Sie war nur schemenhaft zu erkennen, und wie eine schwarzer Mantel wehte ihr Haar, obwohl es beinahe windstill war.
"Halt!" flüsterte sie, und hob ihre rechte Hand. Arpad blieb stehen.
"Anamoch!" sagte er leise, und die Frauengestalt nickte. Ihr Gesicht war weiß wie Marmor, und ihre schwarzen Augen funkelten gleich schwarzen Edelsteinen. Sie war in ihrer Gestalt nicht viel größer als der Thuach na Moch, aber sie strahlte eine ganz und gar überirdische Größe und Macht aus. Sie trug ein blutrotes, tief ausgeschnittenes Kleid, und Arpad starrte auf die Ansätze ihrer vollen Brüste, die sich ihm entgegen zu strecken schienen. Sie war nicht schlank, sondern eher weich in ihren Rundungen, und sie strahlte Sanftmut und Trost aus.
"Wo willst du hin, Arpad e'dhelcú?" fragte sie.
"Das Mädchen," sagte er und zeigte auf die Stelle, wo die junge Frau immer noch mit ausgebreiteten Armen im Wasser stand. "Sie will sich das Leben nehmen."
Anamoch lächelte ihm sanft zu. "Ich weiß!"
Der Mann aus dem Hügelvolk starrte die Frauengestalt erst erstaunt an, aber schließlich senkte er den Blick.
"Natürlich," murmelte er. "Natürlich weißt du das."
Sein Blick fiel wieder auf die Menschfrau, die immer noch unbeweglich im Wasser stand. 'Sie wird sich den Tod holen, wenn ich sie nicht dort raus hole,' dachte er bei sich. Im nächsten Augenblick mußte er innerlich wegen dieses absurden Gedanken lachen. 'Natürlich wird Moch sie holen, wenn es ihm gefällt.'
"Anamoch," sagte er schließlich, "kannst du vielleicht ein gutes Wort bei Moch, unserem Herrn, für sie einlegen?" Wehmütig schaute er die Menschenfrau an. "Sie ist noch zu jung, um ihr Leben wegzuwerfen. Und sie ist …. so wunderschön!" fügte er leise hinzu. Anamoch warf den Kopf in den Nacken und lachte.
"Was ist, Arpad?" fragte sie mit einem spöttischen Lächeln, "Möchtest du sie für dich behalten?"
Verlegen starrte der Thuach na Moch auf seine Stiefel.
"Es ist Beltain, Herrin," antwortete er.
Wieder lachte Anamoch ihr dunkles Lachen.
"Nun gut, Arpad e'dhelcú," sagte sie. "Ich werde sehen, was ich tun kann. Es ist Beltain. Doch unter einer Bedingung…"
Arpad riß den Kopf hoch, und sein Blick wurde mißtrauisch.
"Und die wäre?" fragte er vorsichtig nach.
"Wenn du es schaffst sie an meiner Stelle statt zu trösten, dann soll sie dir gehören. Wenn du es schaffst, ihr den Lebenswillen zurückzugeben, dann ist sie dein."
Arpad dachte kurz nach, die Augen auf die Menschenfrau gerichtet. Dann nickte er.
"Ich nehme die Herausforderung an," sagte er, und Anamoch lächelte.
"Du weißt, mein Lieber," sprach sie, "es ist nur ein Aufschub. Mein Gatte und Bruder wird sie sich holen…irgendwann."
Und der Hügelprinz nickte traurig.

Langsam und vorsichtig sie nicht zu erschrecken näherte er sich der nackten Frauengestalt im Wasser. Sie rührte sich immer noch nicht. Als er vor ihr stand, ließ Arpad die Zeit weiterfließen.
Aus ihrer Starre heraus warf sich die junge Frau nach vorne, - direkt in Arpads Arme hinein.
Verwirrt und erschreckt starrte sie ihn an. Ein Lächeln lag auf dem bärtigen Gesicht des Hügelmannes, und er hob sie auf seine Arme, um sie aus dem See zu tragen. Die junge Frau rührte sich nicht, bis er sie sanft am Ufer auf den Boden setzte.
"Wer…. Wer seid Ihr?" fragte sie, die grünen Augen weit aufgerissen.
Arpad richtete sich auf, nahm seinen Mantel und legte ihn um sie. Dann verneigte er sich vor ihr und sagte mit sanfter, rauher Stimme: "Mein Name ist Arpad e'dhelcú. Und wie, schöne Frau vom See, lautet der Eure?"
Der Blick der jungen Frau fiel auf die spitzen Ohren des Mannes vor ihr.
"Mein Name," sagte sie mit zitternder Stimme, "ist Rhywwena Cunack!"

 

Dies ist eine Geschichte, wie sie Arkan e'dhelcú, der Hügelprinz, immer wieder gern erzählt. Ob sie den Tatsachen entspricht steht auf einem anderen Blatt. Tatsächlich ist die Identität von Jethro Cunacks Mutter nicht nur Arkan sondern auch Jethro selbst völlig unbekannt.

 

Die Frau am See
Fiacha
Carolin Gröhl

 

Zurück



Stand:30.09.2010