Licht und Schatten

 

"Hier also bist Du, Arkan." Asha hatte den Prinzen endlich gefunden. "Was gibt es, Kleines," fragte er müde und mit belegter Stimme.
"Ach eigentlich nichts besonderes. Es ist nur so, daß mich die Langeweile quält, seitdem Scira bei diesem Piratenkapitän Dienst tut."
"Ähm...er ist kein Pirat, sondern ein ehrbarer Händler."
"Ja, ja, und die Kinder werden vom Storch gebracht...", versetzte das Mädchen. "Was machst Du hier eigentlich?"
"Ich habe jemanden besucht." Wie als würde Asha sie jetzt erst bemerken, (sie ist eine hervoragende Schauspielerin) betrachtete sie das Standbild einer hochgewachsenen jungen Frau. Ihre Gesichtzüge waren von ruhiger Schönheit und das schlichte Gewand, welches nur von einer sternförmigen Brosche auf ihrer linken Schulter gehalten wurde, unterstrich die Eleganz und Anmut ihrer Figur. Langes lockiges Haar floß wie ein Wasserfall an ihrem Hals hinab und bedeckte die rechte Brust.
"Wer ist sie?" fragte Asha leise. "Sie ist wunderschön."
"Ihr Name war Gloriél. Sie stammte aus dem Geschlecht der Eldar." Eine Träne schimmerte in den Augen Arkans, als er zärtlich die marmornen Wangen der Statue berührte.
"Ich weiß wohl, daß Du des öfteren hier bist, Arkan. Was verbindet Dich mit ihr, was bedeutet Sie für Dich?" Asha hatte es sich auf einer steinernen Bank bequem gemacht und sah ihn nun aus großen fragenden Augen an.
Der Hügelprinz schenkte dem Standbild einen letzten liebevollen Blick, und richtete dann seine Aufmerksamkeit auf Asha.
"Es ist schon lange her. Gut fünfzig Jahre sind seitdem vergangen aber noch immer lebt die Erinnerung in mir, als wären es erst einige Tage. Siehst Du den Schmerz in ihren Augen? Es ist das Wissen um etwas Verlorenes. Ein Heimweh, welches sich nicht in Worte fassen läßt. Denn sie hat nie erfahren, wonach sie sich sehnte. Die Geschichte die ich Dir nun erzählen werde, hat ein trauriges Ende. Jedoch möchte ich nicht vorgreifen. Aber muß ich Dir sagen, das ich große Schuld auf mich geladen habe. Schuld, die ich niemals sühnen werde können. Doch höre und urteile selbst."

***

Selbst für ihre Vorstellung von Zeit war Gloriél schon lange unterwegs. Kaum noch vermochte sie sich an den Beginn ihrer Reise, ihrer Suche zu erinnern. Und nun hatte ihr Weg sie in ein fernes Land, welches von seinen Bewohnern Tir Thuatha genannt wurde, geführt. Es war ein kalter Tag im Herbst als sie ein kleines Dorf am Fuße eines mittleren Gebirges erreichte.
Müde und durchfroren näherte sie sich dem einzigen Gasthof der Siedlung. Gerade wollte sie die Klinke der hölzernen Tür niederdrücken, und die Schankstube betreten, da wurde die Pforte von innen geöffnet.
Eine Frau mittleren Alters, die ein Tablett in ihren fetten Armen trug trat heraus, musterte Gloriél kurz und plazierte dann den Servierteller neben dem Eingang. Ohne Gloriél eines weiteren Blickes zu würdigen drehte die Frau sich auf dem Absatz um und verschwand wieder im Inneren der Herberge.
Neugierig geworden betrachtete die junge Frau das Tablett neben dem Eingangstreppchen und erstarrte. Sie erkannte ein Schälchen mit frischer Milch nebst einen kleinen Tiegel voller goldenen, süßem Honig. Jedoch ihre Aufmerksamkeit wurde von einem dritten Gegenstand gefesselt. Ein Würgen breitete sich tief in ihrer Kehle aus als sie den mumienfizierten Schädel einer Katze neben den Gaben bemerkte. Anscheinend war der Tod des Tieres schrecklich und schmerzhaft gewesen, denn die eingetrockneten Augen im Kopf des armen Wesens sahen, obwohl leblos, in einer solchen Angst und Schmerz, anklagend, in ihr Gesicht, daß Gloriél erschauderte.
"Wer, bei den Valar, ist nur fähig einer solch harmlosen Kreatur so etwas anzutun?" fragte sie sich, während sie sich angewidert erhob und nun ihrerseits die Schenke betrat.

Schwüle feuchtwarme Luft schlug ihr aus dem Raum entgegen. Der würzige Duft von Pfeifenkraut stieg ihr in die Nase, vermischt mit dem Geruch frischem Eintopfes über dem Herdfeuer.
Für kurze Zeit war es still, verstummte jedes Gespräch in der Stube, ein Effekt den sie nur zur Genüge kannte, denn hunderte Male hatte sie schon Herbergen auf ihrer Reise aufgesucht und immer war da diese Stille, wenn ein Fremder ins Zimmer kam. Doch schnell fanden die Einheimischen wieder zu ihren normalen Tätigkeiten zurück.
Gloriél verschaffte sich einen raschen Überblick, dann steuerte sie den einzigen freien Tisch des Hauses an und ließ sich dort, nachdem sie sich ihres naßkalten Mantels entledigt hatte, in der Nähe des offenen Kamins nieder. Dankbar ob der Wärme des Feuers schloß sie die Augen, streckte die Beine aus und versuchte sich zu entspannen.
Im selben Augenblick waren sie wieder da, die Bilder in ihrem Geiste, welche sie keiner Erinnerung zuordnen konnte. Gigantische immergrüne Wälder, fliegende Schiffe, Leute ihrer Art die lachten, scherzten, sangen und auch weinten. Der Schmerz, das Schreien ihrer Seele, als der Ort, den sie einst Heimat nannte, unter ihren geistigen Händen in die Dunkelheit glitt...
Eine sanfte Berührung an ihrer rechten Schulter riß sie aus ihrer Vision. Offenbar hatte die Schankmaid schon länger versucht die Aufmerksamkeit Gloriéls auf sich zu lenken, denn ihre Stimme hatte einen lauteren Unterton angenommen:
"Was darf ich bringen, Wanderin?"
Wie aus tiefem Schlaf gerade eben erwacht sah sie auf. Schnell hatte sie sich wieder gefangen. Lächelnd antwortete sie:
"Verzeiht, junge Frau, ich war wohl eingenickt. Bitte bringt mir heißen Wein, etwas Brot, Käse und einen Teller dieses Eintopfes."
Das Mädchen nickte und ging um die Bestellung weiterzureichen.
Einer der Männer nahm eine Laute zur Hand, schlug einen Akkord und begann zu singen:

"Jytar Syldd,
Jytar Syldd,
The Thuatha,
Jythar Syldd
Bora Nemhedhainn...
"

Wenngleich sie nicht ein Wort von dem verstand, was der Sänger erzählte, fühlte sie sich doch merkwürdig von dem Lied ergriffen, denn er hatte eine schöne Stimme. Erneut schloß sie die Augen, und ihre Träume zeigten ihr große, weite Hallen, angefüllt mit Fröhlichkeit und Sangeskunst. Obwohl es noch sehr viele Strophen hatte konnte sie sich diese später nie mehr in Erinnerung rufen. Einzig und allein brannte sich die Traurigkeit und Melancholie des Textes in ihr Denken.
Als die Schankmaid geräuschvoll den Teller und den Krug Wein vor ihr auf den Tisch stellte hatte die Wirklichkeit sie wieder.
"Sagt, was bedeuten die Worte des Sängers?" fragte Gloriél wärend sie den hölzernen Löffel ergriff.
Die Magd presste das Tablett vor ihre Brust und schaute sinnierend auf den Musikanten.
"Er erzählt von Knechtschaft, aber auch von Liebe für seine Heimat. Ihr müßt wissen, er kommt aus dem Königreich Tir Nemhedhainn, welches er schon vor langer Zeit verlassen mußte. Und noch immer quält ihn das Heimweh und macht sein Herz schwer."
Die Fremde hob den Becher Wein, sah in die rote, dampfende Flüssigkeit, als beinhalte sie die Antwort auf alle Fragen und sagte nur:
"Bei den Valar, ich kann ihn verstehen, ja.., ich kann ihn verstehen." Sie hob den Becher an die Lippen und trank ihn in einem Zug leer. Dann begann sie hungrig zu essen.

***

Zufrieden lehnte sie sich zurück, legte die Hand auf ihren gesättigten Bauch und seufzte. Der Musikant hatte nun fröhlichere Lieder angestimmt in die die Anwesenden lauthals mit einstimmten.
Beinahe glücklich sah sie in die Runde. Die Lustigkeit und Ausgelassenheit der Menschen steckte sie an. Zumal der Glühwein sein übriges tat. Doch urplötzlich war alles wie fortgewaschen. Der Katzenschädel fiel ihr ein, und so nahm das Schicksal seinen Lauf.
"Verzeiht," fragte sie die Magd, "aber was hat der Katzenkopf draussen zu bedeuten?"
Keiner schien sie zu hören, und so stellte sie ihre Frage erneut. Diesmal etwas lauter.
"Bitte, was hat es mit dem Katzenschädel auf sich?"
Eine Saite der Laute riß, hinterließ einen letzten scharfen Ton, ein lautes Klirren ertönte, schlagartig kehrte Ruhe ein und alle Augen richteten sich auf sie. In der unangenehmen Erkenntnis etwas völlig falsch gemacht zu haben blickte sie in die Runde. Langsam ging das Schankmädchen in die Knie, um die Krüge, welche sie vor Schreck hatte fallen lassen wieder aufzunehmen.
Ein bullig wirkender Mann ging drohend auf Gloriél zu:
"Wie kannst Du es wagen," zischte er, "wie kannst Du es wagen Unglück über ein Haus zu rufen, in dem gerade ein Kind geboren wurde?"
"Aber, ich..." stammelte sie, auch nicht im geringsten ahnend, was sie getan haben könnte.
"Schweig!" herrschte er sie an. "Nimm Deinen Mantel und verschwinde. Bevor Du noch wirklich ihren Zorn auf uns lenkst."
"Wessen Wut soll ich erregt haben?" Hilflos sah sie ihr Gegenüber an.
Eine Ader auf seiner Stirn schien schier platzen zu wollen, als er mühsahm um Fassung rang.
"Du... sollst... schweigen!" preßte er zwischen den Zähnen hervor. "Deine Zeche werden wir übernehmen. Nimm Deine Sachen und mach das Du von hier wegkommst, Unglückselige." Herrisch wies er zur Tür.
"Ihr könnt sie nicht so gehen lassen!" ließ sich eine leise Stimme vernehmen.
Alle wirbelten herum und wandten sich der Sprecherin zu. In den Augen des Serviermädchens flackerte aufkommende Angst.
"Nein," sagte sie etwas lauter. "Ihr könnt sie nicht so einfach gehen lassen. Nicht zu dieser Stunde, nicht in dieser Nacht!"
Beinahe flehentlich sah sie den Männern entgegen.
"Gut," antwortete der Sprecher der Anwesenden. "Wir sind keine Unmenschen."
Er blickte Gloriél streng an. "Bleib auf dem Weg, egal was auch geschehen mag. Du wirst in wenigen Stunden den Nachbarort erreichen. Dein Weg wird Dich durch den Forst führen. Werfe keinen Blick zurück, und hüte Dich vor dem Steinkreis. Nun geh."
Ohne ein weiteres Wort zu verlieren verließ Gloriél die Gaststätte, die sich doch als so ungastlich erwiesen hatte, und machte sich auf einige weitere Stunden Fußmarsches gefasst. Zuvor jedoch verabschiedete und bedankte sie sich noch bei dem Mädchen, welches als einzige für sie eingetreten war.
"Dankt mir nicht," widersprach die junge Frau. Mir graut, wenn ich an die Gefahren denke, die euer harren. Glück auf den Weg, und mögen Euch eure Götter wohl gesonnen sein."
Damit ließ Gloriél die Herberge hinter sich. Im Kopf viele Fragen und eine unbestimmte Angst in ihrem Denken.
Der volle Mond goß sein bleiches Licht über das Land als sie ihre Wanderung antrat. Vor ihr verlief die schmale Dorfstraße und schien vom Dunkel des Waldes schier verschluckt zu werden. Die Frau atmetete noch einmal tief durch, schüttelte in Gedanken den Staub von ihren Füßen und begann ihre nächtliche Wanderung.

***

Schon nach wenigen Metern waren die letzten Lichter hinter Gloriél verschwunden. Der mächtige Forst umfing sie mit seinen uralten lebendigen Armen. Jedoch sie fühlte sich wohl. Der sanfte Schein des sichtbaren Trabanten erfüllte sie mit einem Glücksgefühl. Ein Hauch von Erinnerung, von der sie nicht wußte woher sie stammte, kam über sie. Das Gefühl von taubenetztem Gras unter ihren bloßen Füßen, der würzige Duft und die taumelnden Glühwürmchen. Dies alles ließ eine Saite in ihr anklingen welche schmerzliche aber auch süße Gedanken in ihr wachrief.
Seufzend setzte sie ihren Weg fort.
Sie konnte später nie genau sagen, wie lange sie schon gelaufen war, als sie plötzlich durch ein klägliches Stöhnen aus ihrer Träumerei gerissen wurde. Sofort stieß sie die Träume von sich und fasste nach dem Griff ihres schlanken Schwertes. Mit einer Handbewegung striff sie die schwere Kapuze vom Kopf und lauschte in die Dunkelheit. Ja, da war es wieder.
Irgendjemand schien Schmerzen erleiden zu müssen. Schnell hatte sie die Quelle der Wehlaute ausgemacht. Über einen schmalen Wildpfad gelangte sie zu einer hingestreckten Gestalt. Der Atem des Liegenden ging stoßweise. Gloriél beugte sich hinunter und bettete den Kopf des Verletzten in ihrem Schoß.
"Bei den Valar!" rief sie aus, "Ein Kind!!"
Vorsichtig begann sie den Körper des Jungen zu untersuchen. Das Mitleid trieb ihr die Tränen in die Augen, als sie die Wolfsfalle bemerkte, in die der Knabe getreten war. Das scharfe Eisen hatte sich mit brutaler Gewalt in den Knöchel des Kindes gegraben und diesen zerschmettert. Sie dankte den Göttern, daß er in eine gnädige Bewußtlosigkeit gefallen war. Die Schmerzen mußten beinahe unerträglich sein. Vorsichtig griffen ihre schlanken Finger in die eisernen Krampen der gemeinen Falle und bogen sie zurück. Scharf sog sie den Atem zwischen den Zähnen ein, als sie die Wunde begutachtete. Sie entnahm einige Kräuter aus ihrer Tasche, befeuchtete sie mit Wasser und legte sie auf die Verletzung. Dann legte sie ihren Kopf in den Nacken und begann eine wortlose Melodie zu singen. Beinahe gleichzeitig fühlte sie die Kraft die sie immer noch nicht einordnen konnte, wie sie durch ihren Geist, ihre Hände und Fingerpitzen strömte.
Vor ihrem inneren Auge sah sie, wie sich die Wunde schloß, Knochen wieder zusammengefügt und gerissenene Sehnen eins wurden.
Liebevoll bettete sie sein Haupt an ihrer Brust. Ein Flackern hinter den Augenlidern des nunmehr Geheilten verriet ihr sein baldiges Erwachen. Erleichtert aufseufzend sah sie sich um und erstarrte.
"Bleib auf dem Weg, egal was geschehen mag!"
Die Worte des Bauern aus der Herberge brannten sich wie Feuer in ihr Denken. Nicht länger mehr erschien ihr der Wald freundlich und ruhig. Vielmehr beschlich sie eine ungewisse Angst.
Der Knabe, welcher kaum zehn Lenze zählen mochte, begann sich zu regen.
Zärtlich strich sie dem Kind über die Wange. "Alles ist gut, kleiner Recke, "flüsterte sie. "Du wirst sehen, alles wird gut."
Da schlug der Junge die Augen auf. Dankbar blickte er Gloriél ins Gesicht. Doch der friedliche Ausdruck auf seinem Antlitz wandelte sich jäh in blankes Entsetzen.
"Nein!" schrie er in höchster Not. "Nein lass mich gehen. Ich werde Dir nicht in den Hügel folgen, Du spitzohrige Teufelin. Laß ab von mir!"
Verzweifelt schlug er nach ihr und wand sich in ihren Armen wie ein Fisch auf dem Trockenen. Vollkommen überrumpelt und erschrocken ob seiner heftigen Reaktion ließ sie ihn los. Ungeschickt rappelte er sich auf und flüchtete, so schnell ihn seine Beine trugen, ins Dunkel des Waldes.
Tränen brannten in ihren blauen Augen, als sie noch minutenlang auf die Stelle starrte wo der Knabe verschwunden war.
Ein leises Lachen über ihr ließ ihr Herz für einen Schlag aussetzen. Noch nie zuvor hatte sie ihre Waffe so schnell gezogen. In einer Astgabel, in etwa fünf Metern Höhe entdeckte sie eine Gestalt. Ganz in fließendem Schwarz gekleidet, musterte sie der spitzohrige kleine Geselle sie aufmerksam.
"Steckt eure Waffe wieder ein, werte Freundin. Wenn ich euch etwas antun hätte wollen, so wäre es mir schon längst möglich gewesen. Ihr müsst wissen, ich beobachte Euch schon eine geraume Zeit.">
"Wer seid ihr?" fragte sie, mühsam bemüht, das heimliche Zittern in ihrer Stimme zu unterdrücken.
"Wartet einen Moment," antwortete dieser, "Ich komme zu euch hinunter. Ich spreche lieber von Angesicht zu Angesicht mit meinem Gegenüber."
Die Gestalt erhob sich, und fröhlich jauchzend sprang sie in die Tiefe. Einen lustigen Salto schlagend kam der Kleine vor ihr zu stehen. Aus listigen blauen Augen betrachtete er sie eingehend. Bewundernd piff er durch die Zähne.
"Bei Moch, hätte ich geahnt was für eine delikate Erscheinung ihr seid so hätte ich mich euch schon viel eher vorgestellt."
Er deutete eine Verbeugung an und lupfte seine Kappe.
"Mein Name ist Arkan E´dhelcú. Und wie darf ich Euch nennen?"
Die Frau errötete etwas, als sie sich ihrer Wirkung auf den Mann bewußt wurde.
"Ich bin ganz einfach Gloriél."
"Nun, Einfach Gloriél," sagte er grinsend. "Was treibt euch zu dieser Stunde in die Wildnis. Und versucht nicht mich zu täuschen, gute Frau. Ich spüre sehr wohl daß ihr nicht menschlich seid. Vielmehr kann ich überhaupt nicht irgendeiner Art zuordnen. Was mich allerdings, ich muß es zugeben, sehr neugierig macht."
"Ich bin Gloriél, aus dem Geschlecht der Eldar. Eine Elbin, wie mein Volk bei mir zu Hause von den Menschen und anderen Völkern genannt wird."
"Nun, Frau vom Stamme der Eldar. Ich, Arkan E´dhelcú aus dem Geschlecht des Hügelvolkes entbiete euch meinen Gruß."
"Arkan," begann sie zögernd, "Könnt ihr mir erklären, was das Kind so erschreckt hatte?"
"Nun, ich würde sagen, die meisten Menschen sind ein undankbares Pack... Nein, ich werde ehrlich sein. Der Junge hatte euch für eine meines Volkes gehalten.."
"Für einen vom Hügelvo..." zum zweiten innerhalb kürzester Zeit überkam es die Elbin glühheiß. Zu deutlich fielen ihr die angstvolle Rede des Kindes ein:
"Ich werde Dir nicht in den Hügel folgen, du spitzohrige Teufelin!"
Mißtrauisch wich sie ein paar Schritte zurück. "Warum diese Angst vor Euch und eurem Volk. Warum diese Furcht vor einem einfachen Hügel?"
"Ihr müßt wirklich von sehr weit herkommen, holde Frau. Aber kommt, machen wir es uns gemütlich und werde versuchen es zu erklären. Mögt ihr etwas Milch und Honig?"
Er öffnete seine Tasche, welche er um seine Schulter geschlungen hatte, und förderte das Angebotene zu Tage. Gloriél erkannte die Schälchen nur zu gut. Es waren die Töpfchen, die die Wirtin des Gasthofes vor die Tür gestellt hatte.
"Wenn sie sich doch nur diese eklige Sitte mit dem Katzenkopf abgewöhnen könnte. Es ist wirklich nicht gerade sehr appetitanregend, wenn man zusätzlich zu seiner Nascherei noch Leichenteile serviert bekommt. Oder was meint ihr?"
"Wollt ihr damit andeuten, dies Gaben sind für Euch gedacht?"
"Ganz recht... Wollt ihr? Der Honig von Klochan ist hier eine Berühmtheit."
Da Arkan immer noch keine Anstalten machte Waffen irgendwelcher Art oder bösartige Zauber gegen sie zu richten, kniete sie sich langsam zu dem mittlerweile auf dem Boden Sitzenden hinab und nahm etwas Honig mit süßem Brot. Beim ersten Bissen weiteten sich ihre schönen Augen vor Überraschung.
"Lembas," rief sie verzückt, "es sind tatsächlich Lembas."
"Ach tatsächlich?" sagte Arkan kauend, "Ich ziehe die Bezeichnung Waffel vor."
"Warum aber diese Gaben?" fragte sie wißbegierig.
"Das ist schwer zu beschreiben, meine Gute. Sagen wir, die Leutchen wollen damit erreichen, daß wir ihnen wohlgesonnen bleiben und ihre Familien nicht heimsuchen." Er stutzte. Ein breites, schelmisches Grinsen malte sich auf seine Züge.
"Bei Moch, wenn ich es mir recht überlege haben sie recht. Ich würde mich doch nicht selbst um so eine Göttergabe bringen, in dem ich meine Gönner vergrätze."
Vergnügt schlug er sich auf die Schenkel.
"Und diese Angst vor dem Hügel, überhaupt die Angst vor dieser Nacht. Was im Himmels willen ist so besonderes an diesem heutigen Abend?" fragte sie leise.
Arkan lachte in sich hinein. "Und ihr seid sicher das ihr vom Volke der Eldar seid, und nicht etwa von der Art der Fragenden?"
Unwillkürlich mußte Gloriél nun auch lächeln. "Verzeiht mir, Arkan. Aber dies alles ist für mich derart neu, das ich einfach meinen Wissenshunger stillen muß."
"Nicht nur den nach Wissen, will mir scheinen," versetzte der Mann aus dem Hügel trocken.
Verblüfft starrte sie auf die Waffel in ihrer Hand. "Habe ich wirklich die letzte genommen?" fragte sie schuldbewußt.
"Nicht nur die letzte, sondern auch die dritte, will mir scheinen. Bei Moch, noch nicht mal Lorendas, mein Lehrmeister, verputzt diese Dinger in solch einer Geschwindigkeit."
"Aber...," begann sie hilflos, doch brachte sie ihren Satz nicht zu Ende, denn Arkan war prustend hintenüber gefallen und hielt sich den Bauch vor Lachen. Mit Tränen in den Augen kam er wieder hoch und strahlte sie an.
"Verzeiht," gluckste er, "aber ich muß Euch etwas sagen, was ich noch keiner Frau gesagt habe, und wahrscheinlich auch nie wieder sagen werde. Aber Ihr seid einfach süß, wenn ihr so ertappt dreinschaut." Eine weitere Lachatacke schüttelte ihn und warf ihn erneut auf den Rücken.
"Ihr seid unverschämt, Arkan," protestierte Gloriél.
"Mag sein," kicherte er, "aber ihr seid wirklich zu liebenswert."
Nun mußte sie doch lächeln. "Es freut mich, daß ich Euch so erheitert habe. Aber nichtdestotrotz habe ich noch einige Fragen an Euch."
"Und ich werde mein Bestes tun, sie zu beantworten. Also fragt."
"Nun, was hat es mit der heutigen Nacht auf sich? Warum verbergen sich die Menschen in ihren Häusern, warum warnte man mich vor Gefahren? Ich habe mir das Hirn zermartert, aber es will mir nicht einfallen."
Nun wurde Arkan ernst. "Anscheinend wißt ihr es wirklich nicht. Aber heute ist die Nacht des Samhain."
"Des Samhain?"
In gespielter Verzweiflung sah Arkan zum dunklen Sternenhimmel.
"Oh ihr Götter, kann sie wirklich so naiv sein?"
Er bot ihr seine Hand, welche sie auch ergriff.
"Kommt, ich werde Euch zeigen, was Samhain bedeutet. Nur tut euch selbst den Gefallen und bleibt, egal was ihr sehen oder hören mögt, bleibt ruhig. Versteht ihr, nicht einen Laut, oder uns beiden würde es schlecht ergehen."
"Warum, begeben wir uns denn in Gefahr?"
"Nun," sagte er gedehnt, "die Toten lassen sich nie sonderlich gerne bei ihren Angelegenheiten stören."
Entsetzt sah sie ihn an. "Die Toten? Aber, wenn es so gefährlich ist, warum tun wir es dann?"
"Sagen wir, weil es Spaß macht. Ausserdem ist eine willkommene Abwechslung aus meinem tristen Einerlei. Vertraut mir. Diejenigen, die ich Euch zeigen möchte, sehen zwar fürchterlich aus, doch wenn man einige Regeln beachtet können sie einem nichts antun."
Nicht wissend, ob sie wieder einem derben Scherz aufgesessen war, ließ sich Gloriél von ihm tiefer in den Wald führen. Nach einem halbstündigen Fußmarsch, in dem keiner von beiden ein Wort sprach, erreichten sie den Rand eines Moores. Fragend blickte sie Arkan an. Dieser legte nur den Finger auf die Lippen und wisperte dann:
"Du mußt wissen, in der heutigen Nacht sind die Grenzen vom Zwischenreich und der wirklichen Welt nur sehr dünn. Heute sind die ruhelosen Geister derer die den Tod nicht akzeptieren besonders stark. Heute wandeln sie, die lebenden Toten, die Gespenster, Ghule und... Sieh nur, wir haben Glück."
Aufgeregt deutete er auf die moosige, feuchte Sumpflandschaft vor ihnen. Gloriél gefror das Blut in den Adern. Denn aus dem stinkenden Schlamm waberte plötzlich ein weißer Nebel der sich zu einer alptraumhaften Kreatur verdichtete. Es war die bleiche Gestalt eines jungen Mädchens, oder besser das was von ihr übrig geblieben war. Denn ihr einstmals sicherlich hübsches Gesicht war von einer grauenhaften Wunde entstellt. In stetigem Strom troff rotes Blut zu ihren Füssen und verband sich mit dem Bodennebel.
"Bei den Valar, ist es möglich ihr irgendwie zu helfen?" hauchte sie.
"Kann man dem sterbenden Tag helfen nicht der Nacht zu weichen?" fragte Arkan leise. "Nein, sie ist was sie ist und sie wird es auch bleiben, bis... aber ich werde dir ihre Geschichte erzählen und vielleicht wirst du dann verstehen.."
Er atmete tief durch und begann seine Mär.
"Sie ist schon ein bedauernswertes Geschöpf. Es muß wohl hundert Jahre her sein, da wurde sie von ihrem eifersüchtigen Zukünftigen der Unzucht beschuldigt. In rasendem Zorn schlug er ihr mit einer Axt diese furchtbare Wunde. Aus Angst vor Entdeckung schleppte er die Todgeweihte hier zum Moor. Ohne Skrupel ließ er ihren Körper in den Sumpf gleiten. Doch bevor die schlammigen Fluten sie gänzlich verschlangen, schlug sie noch einmal die Augen auf. Und mit ihrem letzten Atemzug verfluchte sie ihren Mörder. Doch die Verdammung traf sie selbst. Denn es war Samhainn. Seitdem ist es ihr Schicksal immer zu Samhainn aus ihrem finsteren Grabe aufzusteigen und sich dem Dorf zu nähern. Mit jedem Jahr einen weiteren Schritt, bis sie das Haus ihres Mörders erreichen wird. Tragisch nur, daß dieser auch schon viele Jahre Staub ist."
"Sie kommt näher," flüsterte Gloriél fasziniert und verstört zugleich.
"Natürlich sucht sie unsere Nähe. Sie spürt unser Blut, unser Leben."
Gloriéls Augen weiteten sich vor aufkommendem Grauen. "Dann lass uns fliehen, bevor sie uns erreicht," stieß sie hervor.
Arkan legte seinen Arm um ihre Schulter.
"Keine Sorge, Mädchen. Sie kann nur auf zwei Schritte an uns heran. Weiter darf sie noch nicht. Erinnere dich nur jedes Jahr einen weiteren Schritt."
"Und woher kennst du ihre Geschichte?" Unwillkürlich war auch sie ins vertrautere Du übergewechselt.
"Sie hat es mir erzählt."
"Sie hat...es...dir...erzählt?"
"Ja, du kannst mit ihr sprechen. Stell ihr eine Frage wenn du magst. Doch sei gewarnt. Zeige keinen Ekel oder Abscheu. Wenn sie kann, wird sie dir wahrheitsgemäß antworten. Doch hüte dich in ihren Bannkreis zu geraten. Keiner könnte dir mehr helfen."
Die Angst griff mit eiskalter Hand nach ihrem Herzen als die grauenhafte Erscheinung nur knapp vor ihnen zu stehen kam. Eine tödliche Kälte umfing die beiden. Und dann wie aus einer tiefen Höhle, leise und flüsternd begann das Gespenst zu sprechen.
"Bin ich noch immer schön, Mann des Hügels?" hallte es unirdisch.
Gefangen in der morbiden Anziehungskraft des Grauens, konnte die Elbin nicht den Blick von dem zerstörtem Antlitz des Geistes wenden.
"Du bist schön, Fianna. So schön wie jedes Jahr." Arkan verbeugte sich leicht in ihre Richtung. "Meine Begleiterin möchte Dir gern eine Frage stellen."
Bevor Gloriél auch nur protestieren konnte richtete der Geist seine Aufmerksamkeit auf sie.
"Bin ich schön, Frau aus der Ferne?" Ihre Stimme war süß und furchteinflößend zugleich. Gloriél würgte und versuchte ihren Ekel hinunterzuschlucken.
"Du bist schön, Fianna." presste sie hevor.
"Du hast Fragen, Frau aus der Ferne?"
"Ja... woher komme ich... wo bin ich zu Hause?" Angstvoll erwartete sie die Antwort.
Das Geistermädchen schaute sie prüfend an. Ein Schwall transparenten Blutes quoll aus ihrem Mund und verschwand bevor er den Boden erreichte.
"Wir sind uns ähnlich, Frau aus der Ferne. Beide gehören wir nicht in diese Welt und sind doch unrettbar mit ihr verbunden. Doch Du hast etwas wovon ich nur träumen kann. Du hast eine Chance. Eine Hoffnung um die ich Dich glühend beneide. Du kannst dich mit Magira verbinden. Mir ist dies auf ewig verwehrt. Und sollte es dir nicht möglich sein, so werden deine Kinder es verstehen lernen diese Welt zu greifen und zu lieben."
Nach dieser Rede drehte sich das Gespenst um, ging einige Meter und versank vor ihren Augen im glitschigen Morast. Noch lange starrte sie auf den Ort wo die bemitleidenswerte Kreatur verschwunden war. Nicht länger mehr empfand sie Ekel, nur grenzenloses Mitleid mit einer verdammten Seele.
Gloriél fröstelte. Arkan legte seinen Mantel um ihre Schultern und sagte dann:
"Komm, allerschönste Freundin. Es wird Zeit, das du ins Warme kommst. Es wird Zeit daß ich dir das Reich zeige welches ich mein Zuhause nenne."
Wie in Trance nahm sie die Hand Arkans und ließ sich auf einen verschlungenen Pfad weiter in den Wald geleiten. Unvermittelt fand sie sich in einem Ring alter Steine wieder.
"Einer der Männer in der Herberge hat mich vor diesen Steinen gewarnt," sagte sie leise.
Arkan lachte und ließ sie los.
"Gewarnt? Wovor denn? Die Menschen haben immer Angst vor dem, was sie nicht verstehen."
Er tanzte geradezu in die Mitte der mächtigen Monolithen. Wie ein Derwisch drehte er sich im Kreis und seiner tiefen Stimme entrang sich ein ekstatisches Lachen.
"Ja... Spürst du sie, spürst du die Magie dieses Ortes? Ja, du mußt es einfach fühlen. Du mußt es einfach....!"
Gloriél sah sich um und eine nie gekannte Kraft wallte ihr von den Steinen entgegen und erfüllte sie mit Macht.
"Ja," rief sie, "ja, ich kann es fühlen!"
Plötzlich stand er wieder vor ihr.
"So komm mit mir. Ich werde dir Cor Dhai zeigen. Mein Juwel."
Vor dem mächtigsten der Steine verharrte er und legte die Handflächen auf die graue rissige Oberfläche. Leise murmelte Arkan Worte in einer frenden alten Sprache. Uralte, fast schon verwitterte Symbole, die wohl schon vor Jahrhunderten in den Granit gemeißelt wurden, glühten in einem unirdischen Licht auf und verwoben sich zu einem schimmernden Tor.
"Hüte dich vor dem Steinkreis!" Erneut hallte die Stimme des Bauern durch ihren Verstand.
Aber, wie hatte es Arkan noch so einfach ausgedrückt:
"Das, was die Menschen nicht verstehen, fürchten sie."
Ausserdem erwachte ein weitaus stärkeres Gefühl als Angst und Vorsicht in ihr. Neugierde.
Und gemeinsam mit Arkan schritt sie durch das magische Tor.

***

Als sie wieder klar sehen konnte, wäre sie um ein Haar gestürzt. Denn sie befanden sich nun auf einem schmalen Treppenabsatz wohl mehere hundert Meter über dem Erdboden. Nicht nur, daß es recht ungewöhnlich war daß eine so immens hohe Treppe überhaupt existieren konnte, nein, zudem schien sie noch gänzlich aus klaren Kristall gefertigt zu sein. Selbst die Stufen, die sich geländerlos und freischwebend in die Tiefe wanden, bestanden aus demselben edlen Material.
Schwindelig lehnte sie sich an die kräftigen Schultern Arkans, dankbar für den festen Halt.
"Was ist das?" verlangte sie leise zu wissen, "Wo befinden wir uns hier?"
Zu ihren Füßen breitete sich ein gigantischer immergrüner Wald aus, durchbrochen von einem gewundenen roten Fluß der in der Ferne zu einer Stadt führte, deren schlanke, nadelspitzen Türme, welche durch schmale filigrane Brücken miteinander verbunden waren, sich herausfordernd in die Höhe reckten.
"Wir sind an einem der Eingänge zum Reiche des Hügels. Das Land der Tuach na Moch, den Kindern Mochs. Doch muß ich zu meiner Schande gestehen," Arkan lächelte schelmisch, "daß ich das wahrhaft protzigste Tor gewählt habe, mit dem das stille Volk aufwarten kann."
Gloriél hatte nun den Schwindelanfall erfolgreich niedergerungen. Interessiert ließ sie ihren Blick weiter schweifen. Am Horizont bemerkte sie einen dunklen Streifen. Wie die herannahende Wolkenfront eines schweren Gewitters stand er da. Starr und unbeweglich.
"Was ist das?" fragte sie.
"Dies ist die Grenze zum eigentlichen Reich meines Herren. Moch, der Herr des Todes." Er lächelte sie ermutigend an, als >er die feine Blässe bemerkte, welche sich auf ihre Züge malte.
"Hab keine Furcht, liebe Freundin. Moch ist kein Ungeheuer. Wenn ich es mir recht überlege ist er sogar die gerechteste Gottheit von allen. Sieh, er kommt zu allen deren Zeit abgelaufen ist. Egal ob sie nun reich oder arm, Könige oder Bettler sind. Wenn ihr Lebenssand verronnen ist holt er sie zu sich. Dies ist sein Reich und wir sind seine Kinder. Die Kinder Mochs."
"So seid ihr ..tot?"
Nun wollte sich der junge Mann schier ausschütten vor Lachen.
"Tot? Nein, gewiß nicht. Weißt du, wenn es Moch nicht gegeben hätte, dann würde sich heute keiner mehr unser auch nur erinnern. Aber dies zu erklären, das würde nun wirklich zu weit führen. Vielleicht erzähle ich es dir irgendwann einmal."
Auffordernd nahm er ihre Rechte.
"Komm, lass uns nun gehen. Cor Dhai erwartet dich."
"Werden wir den ganzen Weg zu Fuß zurücklegen müssen?"
Der Tuach na Moch schmunzelte. "Normalerweise ja. Aber wie sagte doch Lorendas mein alter Mentor: "Arkan, manchmal bist du geradezu von einer erfrischenden Faulheit." Also werden wir nur bis zum ersten großen Absatz laufen müssen, und dann sorge ich für ein luxuriöseres Transportmittel."
Unter ihnen ergoß sich ein Regenschauer auf die mächtigen Wipfel der uralten Bäume, deren Formen ihr nicht bekannt waren. Würziger frischer Duft, wie immer nach einem erfrischenden Niederschlag, stieg Gloriél in die Nase. Sie schloß die Augen und atmete tief ein. Eine Vision schlanker, ebenmäßig gewachsender Bäume gaukelte vor ihrem inneren Auge. Und ein Name sprudelte hervor aus ihren Erinnerungen...

Lothlorién

Verzweifelt versuchte sie die Träume zu halten, doch wie der Tau der in den Feuern der Morgendämmerung stirbt, so entschwand die Vision, wurde zurückgeschleudert in die Finsternis des Vergessens.
"Was ist mit dir?" fragte Arkan mitfühlend, "Du weinst?"
"Es sind diese Träume, Träume von einer Welt die ich wohl einst kannte und meine Heimat nannte. Und das allerschlimmste, ich kann mich nicht einmal an ihren Namen erinnern. Oh Arkan..."
Ihre tiefblauen Augen weiteten sich angstvoll, als sie ihm ins Gesicht sah. "Werde ich vielleicht wahnsinnig? Ist es das?"
Beruhigend fasste er sie an die Schultern. "Und selbst wenn," scherzte er, "dann bist du immer noch die hübscheste Verrückte die jemals kennenzulernen ich die Ehre hatte. Und du kannst mir glauben, ich zähle einige Verrückte zu meinem Bekanntenkreis."
Doch bereute er seinen makabren Witz, als ihm klar wurde, daß es ihr ernst war mit ihrer Furcht.
"Lass es gut sein, Gloriél. Wenn der Wahnsinn hinter deiner Stirn wohnen würde, so hätte ich es sicherlich schon längst gespürt. Sobald wir in Cor Dhai sind, werde ich dir Lorendas vorstellen. Er ist ein Meister wenn es um Fragen des Geistes und des Verstandes geht. Vertraue dich ihm an. Wenn es einen gibt der etwas über dich und deine verborgene Vergangenheit zu Tage bringen kann, dann ist er es... - Aber sieh:" änderte er das Thema, "wir sind angekommen."
Sie hatten eine gläserne Plattform erreicht, auf der eine kompliziert anmutende Apparatur angebracht war. Auf einem drehbaren Sockel ruhte ein drei Fuß durchmessender Hohlspiegel. Im Zentrum seiner konkaven Wölbung befand sich eine Öllampe.
"Wozu dient es?" fragte die Elbin.
"Es wird unser Transportmittel rufen. Siehst du, mit Hilfe des Spiegels ist es möglich die Strahlen der Sonne einzufangen, und über eine recht weite Strecke hinüber zur Stadt zu senden. Eine Wache auf der anderen Seite sollte sie bemerken und ein Schiff für die Überfahrt schicken, das heißt, wenn diese Wache nicht gerade schläft, betrunken oder anderweitig beschäftigt ist."
Während Arkan erklärte hatte er sich an der Maschine zu schaffen gemacht und den Spiegel ausgerichtet. Drüben, meilenweit entfernt, blitzte es kurz auf.
"Sie haben meinen Ruf vernommen. Jetzt heißt es warten."
"Du sprachst von einem Schiff? Wie soll es nur zu uns gelangen, Ich kann hier keinen Fluß erkennen. Jedenfalls nicht in dieser Höhe."
"Warte es ab," sprach Arkan geheimnisvoll. "Nur noch kurze Zeit und du wirst dich endlich einmal wieder richtig erholen können. Ich verspreche es."
Und wirklich. Einige Minuten später löste sich ein Punkt von einem der Türme der Stadt und kam auf die beiden zugeglitten. Verblüfft riß Gloriél die Augen auf, als sie ein Schiff erkennen konnte, welches unter vollen Segeln durch die Kluft auf sie zukam.
"Ich habe so etwas schon einmal gesehen," flüsterte sie. "Ja, beinahe bin ich mir sicher, auch auf so einem Gefährt schon einmal gereist zu sein."
"Nun, hier mit Sicherheit nicht." lachte Arkan.
Es vergingen noch gute zwei Stunden, bis das kleine fliegende Schiff an dem Landemast festmachte. Geschickt fing Arkan das ihm zugeworfene Tau auf und verknotete es mit dem Poller. Dann wurde eine Planke hinübergelegt. Arkan ließ Gloriél den Vortritt das Schiff zu entern. Als er ihr folgte, wurde er vom Kapitän der Fähre irritiert angestarrt.
"Eure Majestät, wenn wir gewußt hätten daß ihr es seid, hätten wir natürlich das Prunkschiff gesandt."
Gloriél wirbelte herum. "Eure Majestät!!??" Offenen Mundes starrte sie ihn an. Verlegen lächelte Arkan. "Ähm, vergaß ich es zu erwähnen? Nun ja, der Prinz, der... die Majestät bin dann wohl ich..."
Gloriél schüttelte nur den Kopf. "Arkan, Arkan. Gibt es sonst noch irgendetwas, was ich über dich wissen sollte, oder muß ich mich noch weitere Überraschungen gefaßt machen?"
"Solltest du wirklich ein Mädchen sein, das die letzte Seite eines Buches zuerst liest um sich selbst um die Spannung zu bringen? Das kann ich mir eigentlich nicht vorstellen."
Ihre Augen funkelten mit einem Male heiter. "Nein, gewiß nicht. Doch werde ich mich nicht noch einmal so leicht von dir foppen lassen."
Arkan legte vorsichtig den Arm um ihre schmale Hüfte. Er führte sie an den Bug des Bootes. Und als es langsam ablegte und Kurs auf Cor Dhai nahm, da ließ die untergehende Sonne die Stadt wahrlich wie ein Juwel im Abendlicht erstrahlen.
"Ich verstehe dich," hauchte die Elbin. "Ich verstehe, warum du sie so sehr liebst..."
Als er keine Antwort gab, schaute sie ihn von der Seite an. In seinen Augen schimmerte es verdächtig. Wortlos umarmte sie ihn, und gemeinsam weideten sie sich an der Schönheit der näherkommenden Metropole des Hügelvolkes.

***

Gloriél verbrachte Wochen des Glücks in Cor Dhai. Jeden Tag gab es Neues zu entdecken. Mit Arkan unternahm sie lange Streifzüge durch For´elle, dem großen Forst des Reiches, führte tiefgründige Unterhaltungen mit Lorendas, dem alten Lehrmeister Arkans. Doch so sehr sie auch mit ihm forschte, nie brachte sie neue Erkenntnisse über Vergangenheit an Licht. Nur eines, was ihr schon Fianna das Geistermädchen eröffnet hatte ließ sich erhärten. Es schien beinahe so, als wäre sie wirklich nicht von dieser Welt.
Die Tage hier im Reich des Hügelprinzen, waren Balsam für ihre Seele. Langsam verblaßten die Strapazen der vergangen Monate und ihr Herz erlernte das Lachen neu. Doch mußte sie auch erkennen, daß es in diesem Land nicht nur Freude und süßen Müßiggang gab. Wie jedes andere Königreich auch, gab es hier Arme und Reiche, Beherrschte und Herrschende. Nur einmal nahm Arkan, und auch nur auf ihren besonderen Wunsch hin, sie mit in den steinernen Garten. Den Teil des Reiches, welcher wirklich Moch gehörte. Als sie die unzählbaren Statuen in der grauen Nichtzeit sah und ihr Arkan erklärte, daß es sich bei ihnen um die Essenzen Verstorbener handelte, da wollte sie diesen Ort so schnell wie möglich wieder verlassen. Auch bemerkte sie, daß ihr Denken in vielerlei Hinsicht von dem des Hügelvolkes abwich.
Durchaus war diesem Volk die Intrige nicht fremd. Und wenn es dem Zwecke dienlich war, benutzte man auch schon einmal nicht ganz so weiße Magie. Am meisten jedoch war es ihr unverständlich und beinahe schon zuwider, daß diese Wesen, die in der einen Minute so freundlich, fröhlich und hilfsbereit sein konnten, im nächsten Augenblick in die Menschenwelt auszogen um eine Beute ganz besondere Art zu machen. Menschliche, aber auch Kinder anderer Rassen, entführten sie aus den Wiegen der Häuser und brachten sie in den Hügel. Der Frage was mit ihnen geschieht, wich Arkan immer wieder aus.
Als Gloriél einige Menschenkinder in der Stadt entdeckte, welche hier ganz normal aufwuchsen und von allen akzeptiert wurden, von den üblichen kleineren Streitereien einmal abgesehen, war sie halbwegs beruhigt. Doch nur teilweise, denn bei der Menge geholter Kinder hätte es noch weitaus mehr von ihnen geben sollen. Aber nachdem sie Arkan nach deren Verbleib ansprach, und es aufgrund ihrer Neugierde beinahe zum Streit gekommen war, unterließ sie ihre Forschungen in dieser Richtung. Zumahl ihr der Prinz versicherte das den Kleinen kein Leid geschen würde. Desweiteren erfuhr sie, das es noch sechs weitere Städte im Hügelreich gäbe. Allerdings besuchte sie diese nie.
So vergingen die Monate, bis zu jenem Zeitpunkt, der ihr klarmachte, das sie nicht zu diesem Volk gehörte und auch nie gehören würde.

***

Gloriél und Arkan hatten sich in die Bibliothek des Kristallpalastes zurückgezogen und fröntem dem süßen Nichtstun. Der Prinz hatte sich seine Lieblingspfeife gestopft und schaute nun sinnierend den blauen Rauchfiguren nach, die zur Decke strebten. Gloriél genoß einen gereiften Rotwein und las in einem alten Buch über die Geschichte der Welt, die sie nun doch bald Heimat nennen mußte. Vor ihrem inneren Auge entstanden und zerfielen ganze Kulturen.
"Die Legenden Magiras sind blutig," bemerkte sie.
"Nicht grausamer als die anderer Welten, möchte ich wetten," erwiderte Arkan während er seine ausgerauchte Pfeife am Kamin ausschlug und reinigte. Plötzlich kam es zu einem kleinen Tumult an der Tür des Raumes. Energisch wurde sie aufgestoßen und eine bleiche Palastwache stolperte herein.
"Mein Prinz," keuchte er, "es gab einen Zwischenfall in der fünften Kammer der Cystire."
Wie von einem Skorpion gestochen sprang Arkan auf und stürzte auf die Wache zu.
"Rede, Mann, was ist geschehen?" herrschte er den Gardisten an, während er ihn grob am Kragen packte und ihn schüttelte wie einen jungen Hund.
"Ifor, der Cystirwr der fünften Kammer wurde schwer verletzt aufgefunden. Der Täter ist geflohen und er nahm den Kristall mit sich..." stieß die Wache hervor.
Der Prinz wurde aschfahl. "Der Kristall wurde entwendet?" Arkan schrie es fast. "Schnell zur Kammer." befahl er hektisch. "Und du," brüllte er die arme Wache an. "Sorge dafür, daß die fliegenden Boote bereitgemacht werden. Wir müssen des wahnsinnigen Diebes unbedingt habhaft werden."
"Kann ich irgendetwas tun?" warf Gloriél ein. Arkan funkelte sie an. "Ja, das kannst Du tatsächlich. Es kann möglich sein, daß wir deiner Heilkunst bedürfen, Elbin. Nun schnell zur Kammer."
Mit diesen Worten jagte er aus dem Raum, so rasch, daß es ihr kaum möglich war ihm zu folgen. Eine merkwürdige Angst hatte sich ihrer bemächtigt als sie in die stahlblauen Augen Arkans gesehen hatte. Wilde Entschlossenheit hatte sie darin gelesen, aber auch der Wille zu töten und zu strafen. Unangenehm berührt rannte sie hinter ihm her.


Die Kammer der Cystire bot ein Bild des Chaos. Das ruhige aquamarine Licht war mit dem Stein gegangen. Schon bildeteten sich gleißende Risse, welche sich in einer beängstigenden Stetigkeit langsam und unaufhaltsam ausbreiteten. Inmitten einer Blutlache lag der Wächter des Kristalls. Ein großer Dolch stak in seinem Rücken. Schwärzlich verfärbten sich die Wundränder.
"Bei Moch!" Arkan wich unwillkürlich einen Schritt zurück. Dann spie er angewidert aus.
"Was ist es?" Gloriél hatte sich zu dem Schwerverletzten hinabgebeugt und untersuchte die Wunde. "Es scheint ein Gift am Werke zu sein, doch kann ich keines feststellen."
"Es ist der Stahl," brachte Arkan hervor. "Das Eisen verbrennt ihn in kaltem Feuer."
Kurz entschlossen griff die Elbenfrau den Dolch und riß ihn aus der Wunde. Dann schrie sie lauthals nach heißem Wasser. Mit einer Kraft, die man ihren schlanken Händen nicht zugemutet hätte zeriss sie das Wams des Verletzten, legte ihre mittlerweile blutverschmierten Finger auf den üblen Stich und begann einen monotonen Singsang. Sie zwang der Verletzung ihren Willen auf. Befahl dem durchtrennten Fleisch sich wiederzusammenzufügen und die geborstenen Adern zu schließen.
Die Adern an ihren Schläfen schwollen an, als sie begann mit Moch um das Herz des Wächters zu kämpfen. In einer erbarmungslosen Schlacht in der nur sie allein gegen einen übermächtigen Gegner antreten mußte, rang sie um das Leben des vor ihr Liegenden. Sie schloß die Augen und wurde Furchtbares gewahr. Aus dem Dunkel, welches von gleißenden Blitzen schaurig umtost wurde, trat die riesenhafte Gestalt eines von schrecklichen Kampfwunden übersähten mächtigen Kriegers, der eine blutige Streitaxt in den narbigen Pranken hielt. Sie sah sich, wie aus den Augen eines Dritten, ein gleißendes Schwert, geformt aus reinem Licht ziehen, und sich dem Schrecklichen stellen.
Über dem Körper des Cystirwr kam es zum Kampf. Mit urweltlichem Brüllen ließ der Krieger seine Axt herabsausen, in dem Bestreben dem Todwunden die Brust zu spalten. Den Schrei "ELBERETH" auf den Lippen, blockte die zierliche Frau die furchtbare Waffe und rettete so das Leben des Wächters. Erneut holte der Fremde mit seiner Schlachtbeil aus, doch diesmal suchte er die Frau zu treffen. Im letzten Moment brachte sie ihre gleißende Klinge zwischen sich und dem todbringenden Hieb. Überraschung malte sich auf die traurigen Züge des Giganten, so als würde er Gloriél jetzt erst richtig wahrnehmen. Irritiert schüttelte er sein massiges Haupt und wich zurück. Gloriél hatte sich mittlerweile über Ifor gestellt und hielt drohend ihre Waffe auf den Kämpfer gerichtet. Der Krieger senkte seine Streitaxt und sah sie lange an.
"Dieser hier ist nicht für dich," schrie sie. "Noch ist er nicht bereit mit dir zu gehen."
Da verschwamm seine Gestalt und nahm ein anderes Aussehen an. Mit Entsetzen erkannte sie die neue Form. Sie selbst war es nun, die ihr gegenüber stand. Die unendliche Traurigkeit in den Augen ihres Zwillings traf sie gleich einem glühendem Schwert.
"Diesen Kampf hast du gewonnen," hallte es in ihrem Denken. "Aber den Krieg werde letztendlich ich siegreich zu Ende bringen. Ich freue mich schon, dich in meinen Hallen, wenn auch nur für kurze Zeit, begrüßen zu können. Noch hast du eine Chance, gib ihn mir und ich werde vergessen daß es dich gibt."
Lächelnd streckte sie die Hände nach Ifor aus. Aber Gloriél blieb unerbittlich.
"Verschwinde," sagte sie gefährlich leise. "Ich werde deinen Preis zahlen, wenn die Zeit gekommen ist."
"Wie du es wünscht, Gloriél von den Elben aus dem Reich, welches man Mittelerde nennt. Wir werden uns wiedersehen. Früher vielleicht als du glaubst."
Nach diesen Worten verbeugte er (sie) sich tief und in einem Wirbel von schwarzem Licht verschwand die Erscheinung.
Gloriél fiel vornüber, als es vorbei war. Lächelnd sah sie zu Arkan auf.
"Er wird leben, hörst du, er wird leben."
Arkan sah auf Ifor herab. "Vielleicht wäre es besser gewesen, du hättest ihn sterben lassen."
Entsetzt blickte sie ihm in die nunmehr eiskalten Augen. "Was willst du damit sagen?" wisperte sie.
"Mit Moch geht man nicht ungestraft einen Kampf ein. Und noch schlimmer, man gewinnt ihn nicht, ohne dafür zu bezahlen!"
Bevor sie ihm etwas erwidern konnte, eilte ein weiterer Gardist in den Raum.
"Herr," meldete er knapp und nahm Haltung an, "die Boote sind bereit zum Auslaufen."
"Gut, folgt mir," ordnete der Prinz an, "wir müssen den Dieb finden und zur Strecke bringen. Koste es, was es wolle." Als er die Kammer verließ wallte sein schwarzer Umhang gleich dem Mochs, des Herrn des Todes.
Gloriél folgte ihm mit gemischten Gefühlen. Wo war der fröhliche Mann geblieben, den sie kennen und schätzen gelernt hatte. Er schien verschwunden und einem anderem, ja geradezu einem Tyrannen Platz gemacht haben. Sie eilten zum Ankerplatz der Jagdboote, während hinter ihnen, in der Kammer der Cystire, die langsamen Blitze weiterhin am Leben Cor Dhais fraßen

***

Sian gab ihrem Pferd die Sporen. Das Gewicht des Kristalls an ihrem Gürtel trieb sie zu noch größerer Eile an. Wie leicht war es doch gewesen Ifors Vertrauen zu erschleichen und ihm dann in einem unbedachten Augenblick den Dolch, den ihr der Menschenmagier gegeben hatte, in den Rücken zu stoßen. Die Cystirwr erfreuten sich nicht gerade großer Beliebtheit in den Reihen des Hügelvolkes. Und wenn Cor Dhai fallen würde, so würde auch die Familie E´dhelcú zugrunde gehen und Cor Falias, die Heimstatt derer von Trachyror, würde endlich herrschen.
Es war ein Opfer, gewiß, denn nie wieder würde sie in den Hügel zurückkehren können, wenn sie ihm den Rücken gekehrt hatte, aber es war es wert. Ja, es war es wert die verhassten E´dhelcús vernichtet zu sehen.
Die Reitgerte schlug auf die Hinterbacken ihres Pferdes, als sie es zu noch größerer Eile antrieb. In der Ferne konnte sie die kristallenen Stufen zum Aufgang nach Magira ausmachen. So nah das Ziel vor Augen, entschloß sich die schöne Tuach na Moch ihr Tier noch heftiger zu treiben, und wenn sie es zuschanden reiten würde.

***

Die Fafnir, das kleine, schnelle Jagdboot des Prinzen legte vom Kai ab und nahm die Verfolgung des Diebes auf. Nur allzu deutlich erinnerte sich Gloriél an ihre erste Fahrt mit solch einem Schiff. Doch von der romantischen Stimmung der Reise nach Cor Dhai war nichts mehr zu fühlen. Bogenschützen und grimmig entschlossene Kämpfer stellten nun die Besatzung. Allen voran stand Arkan E ´dhelcú der Regent des Hügelvolkes den Bogen über der Schulter und das Blasrohr an seiner Seite. Unerbittlich näherte sich das Schiff seiner Beute.

***

Endlich hatte Sian den Fuß der Himmelstreppe erreicht. Gewandt sprang sie vom Rücken des Pferdes, nahm den Beutel mit dem faustgroßem Kleinod Cor Ddhais und begann den beschwerlichen Aufstieg der zehntausend Stufen. Dort oben, so wußte sie, winkte ihr die Errettung vor Strafe und die Belohnung des Magus.
So schnell sie ihre Füße trugen, erklomm sie die Treppe, die sie ihrem Ziel näher brachte.

***

"Da ist der Dieb," brüllte der Ausguck. "Genau, wie der Kapitän es vorhergesehen hat!"
Arkan nickte kalt und legte einen Pfeil auf die Sehne seines Hornbogens.
Gloriél schaute ihn entsetzt an. "Du willst sie abschießen wie ein wildes Tier?" Denn mittlerweile konnte man erkennen, daß es sich um eine Frau handelte.
"Für das Wohl des Hügelvolkes und Cor Dhais würde ich alles tun und wagen," sagte er heiser.
Sorgfältig zielte er, hielt den Atem für kurze Zeit an und ließ dann den gefiederten Todesboten fliegen.

***

Sian hatte das Tor erreicht. Ihre schmalen Finger legten sich auf die Oberfläche aus Granit und ihre sanfte Stimme murmelte die uralten Formeln.

"Öffne Dich Tor nach Magira
Zeige mir Deine Wunder
Laß mich ein,
ein in die Welt meiner Ahnen.
Ich befehle es!!!"

Die Runen begannen zu glühen und das Tor zur Menschenwelt zu weben. Gerade wollte sie hindurchtreten, da bohrte sich glühheißer Schmerz zwischen ihre Schultern. Der Atem wurde aus ihrer Lunge gepresst und während sie fiel und ihr unsterbliches Leben aushauchte, wußte sie, daß sie versagt hatte.

***

Wie eine Marionette, der man die Fäden durchtrennt hatte, fiel die zierliche Gestalt tödlich getroffen in die Tiefe. Ein, zweimal noch schlug sie auf den Kristallstufen auf und benetzte sie mit ihrem Blut, dann verschwand ihr zierlicher Körper krachend im Unterholz des Waldes.
Schnell gab Prinz Arkan Anweisungen in der Nähe zu landen. Noch bevor die Fafnir ganz aufgesetzt hatte, flankte Arkan über die Bordwand und eilte zu der Stelle an der er Sian vermutetete. Gloriél erreichte ihn, als er gerade den Beutel mit dem Cystir von ihrem Gürtel entfernte. Der zerschmetterten Gestalt des Mädchens würdigte er keinen Blick. Triumphierend reckte er die blutdurchtränkte Tasche in die Höhe und seiner Kehle entrang sich ein Siegesschrei.
Schaudernd hielt die Elbin Abstand.
Einer der Gardisten stellte sich neben seinen Prinzen.
"Was soll mit der Leiche geschehen, mein König?"
Arkan schenkte der Toten keine weitere Beachtung als er befahl:
"Verbrennt ihre Gebeine, und übergebt sie Sereg Ran, dem blutenden Wanderer, dem Strom. Möge Moch mit ihr tun, was ihm beliebt. Doch nun schnell zurück. Die Zeit wird knapp, wir müssen den Kristall wieder einsetzen."
Er kehrte zum Schiff zurück. Gloriél folgte ihm, tief erschüttert.

***

In der Halle der Cystire setzte Arkan persönlich den Kristall wieder auf sein Dreibein. Beinahe sofort verblassten die Blitze und das dumpfe bedrohliche Grollen verebbte. Die Schultern Arkans fielen zusammen, so als würde eine zentnerschwere Last von ihm genommen. Er drehte sich ium und sah Gloriél ins Gesicht. Doch nur Zorn und Unverständniß schlug ihm entgegen.
"Du mußt verstehen, geliebte Freundin, ich hatte keine andere Wahl."
"Man hat immer eine Wahl," urteilte sie.
"Was glaubst du wohl, warum man Cor Murias die verlorene Stadt nennt? Auch ihr wurde nur einer der Kristalle geraubt. Sie ging unter. Mit allem was in ihr lebte. Was zählt ein Leben gegen das einer ganzen Stadt?"
Gloriél antwortete nicht, sondern drehte sich nur um und verließ die Kammmer. Arkan barg das Gesicht in den Händen.
"Oh Ifor, eine weitere Pflicht bleibt mir noch. Auch dich muß ich strafen. Auch wenn es gegen alles geht, was mir teuer ist. Aber du hast versagt, und so muß ich handeln. Manchmal hasse ich meinen Rang als Herrscher der Tuach na Moch."

***

Das hohe Gericht des Hügelvolkes war zusammengetreten, um über die Bestimmung Ifors zu urteilen. Nunmehr, dank der Hilfe der Elbin vollkommen geheilt, erwartete Ifor seinen Urteilsspruch. Die Weisen der Tuach na Moch waren zusammengekommen um sein Strafmaß zu bestimmen.
Lorendas, der Weise des Hügels, ergriff das Wort.
"Ifor, erhebt Euch." Der Angesprochene tat wie ihm geheißen.
"Ifor, im Namen der Tuach na Moch ergeht folgender Urteilsspruch. Aufgrund Eurer schweren Verfehlung sollt Ihr für fünfzig Jahre aus dem Hügel verbannt werden. Eigentlich hätte Euch der Tod treffen müssen, jedoch aufgrund der Fürsprache von Gloriél aus dem Volke der Elben, wurde diese Ahndung ausgesetzt. Sobald Lady Gloriél uns verläßt, werdet Ihr mit ihr gehen. Dies ist somit beschlossen und nicht mehr abwendbar."
Ifor nickte nur, und dies sagte mehr als tausend Worte...
Arkan trat auf ihn zu, musterte ihn kurz und umarmte ihn dann heftig.
"Ifor, ich zähle auf Euch, beschützt sie, wie Ihr es nur könnt. In fünfzig Jahren werde ich auf Euch warten. Ich hoffe, daß Ihr keinen Hass gegen mich hegt."
Ifor erwiderte die Herzlichkeit und sagt dann, "Ich weiß, daß Ihr so handeln mußtet. Ich empfinde keinen Zorn. Und wenn wir uns wiedersehen, werden wir ein Glas auf die Vergangenheit leeren."

***

Die Zeit verging, sie war nicht aufzuhalten, selbst hier nicht. Die Sehnsucht und die Reiselust erwachten in Gloriél. Eines Tages sprach sie Arkan an. Ihr Zorn war verraucht und einer schmerzlichen Leere gewichen.
"Arkan, mein Freund. Es wird Zeit, daß ich weitergehe. Zu lange >schon verweile ich hier. Ich möchte mich von dir verabschieden."
"So bleib wenigstens noch bis morgen," bat er.
"Warum bis morgen?" fragte sie mit hochgezogenen Augenbrauen.
"Morgen geben wir ein großes Fest, dies wäre doch ein schöner Abschluß für deinen Besuch hier bei uns, oder?"
Sie lächelte traurig. "Ja, ich glaube, dies würde mir gefallen."

***

Der alte Steinkreis war geschmückt wie selten zuvor. Jungfern aus dem Hügelvolk hatten tagelang Blüten gesammelt und sie zu kunstvollen Kränzen geflochten. Man tanzte zu fröhlicher Musik um die Schatten des Winters zu bannen und die Fruchtbarkeit des neuen Jahres zu feiern. Alles Böse schien weit hinter ihnen zu liegen. Die ersten warmen Frühlingsbrisen erfreuten die Herzen der Feiernden und machten sie leicht. Der Gesang der zurückgekehrten Zugvögel erfüllte das Denken der Tanzenden mit langvermißter Freude. Die Priester und Druiden beschworen in wunderschönen Gesängen die Geister des Schaffens. Arkan tanzte mitten unter ihnen, und sein Lachen schallte laut wischen den Menhiren des Steinkreises.
Plötzlich erschien, wie aus dem Boden gewachsen, Gloriél vor ihm. Nur angetan in einem dünnen Gewand, welches von einer sternförmigen Brosche auf ihrer Schulter gehalten wurde.
Wortlos nahm sie den Hügelprinzen bei der Hand und führte ihn fort vom Orte der Feiernden.
Auf einer kleinen Lichtung, die umsäumt wurde von uralten Eichen, zog sie ihn in die Mitte. Eine leichte Berührung an ihrer Brosche ließ diese aufspringen und das Gewand zu Boden gleiten. Sie umarmte ihn heftig und benetzte seine Lippen mit Küssen. Ihre Zärtlichkeiten erwidernd, befreite er sich von seiner störenden Kleidung und sank mit ihr auf das weiche Lager.
Und nur die Sterne, die Fayris und die Götter hörten ihr gemeinsames "JA!!"

***

Das Fest war zu Ende, einige im Rausch eingeschlafen, die anderen hatten sich auf gemütlichere Lager zurückgezogen. Nur drei Personen waren noch da, um die Morgensonne zu grüßen.
Gloriél, Ifor und Arkan hatten sich vor dem größten der Steine zusammengefunden.
Arkan ergriff das Wort."Nun ist es Zeit Abschied zu nehmen. Es schmerzt, aber es muß wohl sein."
Er wandte sich an Ifor, dem Cystirwr. "Achte auf sie, schütze sie wenn möglich mit deinem Lebem. Dies ist kein Befehl, sondern eine Bitte. Denn befehlen darf ich dir nichts mehr."
Ifor fiel vor ihm auf die Knie. "Ich werde Euch nicht noch einmal enttäuschen. Mein Leben für ihres. Und in fünzig Jahren werde ich mich wieder unter Euer Kommando stellen."
"Ich danke Euch, Ifor. So möchte ich Euch noch eines geben."
Der Prinz reichte ihm ein Lederband, an dem ein winziger Dolch befestigt war. "Wenn ihr in höchster Not seid, so beruft Euch auf dieses Kleinod, und ich werde Euch finden."
Tief bewegt nahm Ifor das Geschenk an. Ohne ein weiteres Wort nickte er und trat zurück.
Gloriél lächelte Arkan an.
"Ich wünsche nichts von dir," sprach sie mit tränenerstickter Stimme. "Nur, daß du mich irgendwo hinschickst. Und folge mir nicht. Wenn ich dich finden möchte, so werde ich dich erreichen."
"So soll es sein," sagte er heiser, mühsahm um Fassung ringend. "Doch sollte mich ein Ruf von dir erreichen, so werde ich alles, und seien es die Götter, in Bewegung setzen, um dich zu finden."
Da schluchzte Gloriél laut auf und warf sich ihm in die Arme. Einen langen Kuss später standen sie und Ifor vor dem Stein. Arkan hob die Arme und intonierte die uralte Formel. Als sie verklang, glühten schon längst vergessene Runen auf, entfalteten ihre magische Kraft und die beiden flirrten aus der Realität.
Kaum waren sie verschwunden, da erreichte keuchend und nach Atem ringend Lorendas die Stätte.
"Sie sind fort?" fragt er.
"Sie sind fort!" antwortete Arkan.
Lorendas wollte sich gerade zum Gehen wenden, da packte ihn der Prinz an der Kapuze.
"Was ist es, was du mir sagen willst," verlangte er zu wissen.
Traurig sah ihn der Alte an. "Ich weiß wohl, mein Sohn, daß ich dich nicht belügen kann. Ich konnte es noch nie. Gloriél wird bald sterben, sie wird ihren Preis bei Moch bezahlen. Und du wirst mit Schuld daran tragen. So sagen es die Sterne. Jedoch auch die Sterne irren sich bisweilen."
Völlig erschlagen ob dieser Nachricht blickte Arkan auf den grauschwarzen Menhir, vor dem vor Sekunden noch seine Gloriél stand.
"Und doch werde ich mein Versprechen halten und dir nicht folgen..."

***

"Dies ist die Geschichte, liebe Asha, wie sie sich vor nunmehr fünfzig Jahren zugetragen hat. Dies ist die Geschichte die mir ihr Standbild jeden Abend erzählt."
"Hast du sie jemals wiedergesehen?" fragte Asha leise.
"Ja, genau hier. Einige Monate nach unserem Abschied erschien mir hier ihre durscheinende, liebliche Gestalt, manifestierte sich dann zu einer Statue ihrer Essenz. Doch entgegen aller anderen, die ich jemals sah, konnte sie sich bewegen. Sie umarmte mich und hauchte mir einen Kuß auf die Lippen. Doch hinter ihr sah ich Moch in ihrer Gestalt. Er nahm sie mit sich in sein Reich, forderte seinen Preis für ein Leben. Doch, soll ich dir etwas sagen? Ihre sonst so traurigen Augen... Plötzlich lachten sie und nicht länger mehr wollten sie weinen. Ich hoffe, nein ich glaube, sie hat nun endlich verstanden."
Arkan seufzte. "Nun, Kleines, hälst du mich für schuldig?"
Asha kaute auf ihrer vollen Unterlippe. "Ich glaube, dies kannst nur du selbst Dir beantworten, oder aber die Zukunft."
Sie erhob sich und ihre kleine Hand suchte die Arkans.
"Komm, ein Barde spielt heute abend auf. Lass uns ihm lauschen und ein, zwei Gläser Wein trinken."

Ende

Licht und Schatten
Eberhard Schramm

erschienen in "Thrilling Star Stories"

 

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Stand:30.09.2010