Wunden

 

Diese Episode ist irgendwann kurz vor Fiachas und Chat Bidus Begegnung am See einzuordnen.

Chat Bidu griff nach einem der kleinen Flakons, die auf dem großen, niedrigen Fenstersims standen und betupfte sich mit dem schweren, harzigen Blumenöl die Schläfen. Durch das geöffnete Fenster wehte eine stetige Brise und schuf mit den zuckenden Schatten der Kerzenflammen und dem verwirbelten süßen Aroma des Öles eine bizarre Atmosphäre. Sie ließ sich auf dem Sims nieder, zog die Beine an, und lehnte den Rücken gegen den gewaltigen, kühlen Fensterbogen. Die Druidin hob ihren Kopf und bewunderte den Glanz der Himmelslichter und den Gesang eines kleinen Mondvogels, als die erste Träne über ihre Wangen glitt, - wie ein heimlicher Verschwörer, der nur darauf gewartet hatte, dass sie ihrer Einsamkeit wieder einmal wehrlos ausgesetzt war. Sie hasste diese Nächte.

Prinzessin Fiacha schmollte. Es war fast lächerlich. Nein, es war lächerlich! Er war ein guter Ehemann, - jedenfalls hätte sie eine schlechteren bekommen können. Er war immer ein guter Freund. Und der Prinz der Mocha. Wie konnte er, der mächtigste Mann im Reiche der Tuach na Moch, der Meister der Zeitmagie, ihr das sagen ohne selbst loslachen zu müssen?
"Ich habe leider keine Zeit, Frau…"
Ein leises, abfälliges "Pffft" kam über ihre Lippen.
An einer Gangkreuzung blieb sie kurz stehen, unschlüssig, in welche Richtung sie nun gehen sollte.
Zurück? Nein, mit der tödlichen Sicherheit von Moch nicht! Ein schelmisches Lächeln umspielte plötzlich ihren Mund, als sie Arkans entgeisterten Gesichtsausdruck bei ihrem brüsken Rückzug noch einmal vor Augen sah. Er hatte ihre Reaktion sicherlich nicht verstanden und würde ihr irgendwann einmal, ganz unverhofft die Frage stellen.
Und dann würde sie ihm klar machen, dass Geschäfte, Ratssitzungen, Feiern, ja sogar seine Techteleien mit anderen Frauen nie ihren Zorn dermaßen schüren würden, wie diese unsinnige Äußerung: "Ich habe keine Zeit!".

Sie spürte mit einem mal den wachsamen Blick des Fiannas, der den Flur zu den privaten Gemächern bewachte, auf sich ruhen, und fragte sich, wie lange sie nun mitten auf dieser mit schwerem Teppichen belegten Kreuzung regungslos gestanden hatte. Mit einem kurzen Lächeln signalisierte sie ihm, dass alles in bester Ordnung war, und wählte den dunkleren Gang zu ihrer Linken. Ihre Schritte blieben, umfangen vom weichen Flor des Teppichs stumm, und zum ersten Mal genoss sie diese Stille und Dunkelheit im Norflügel des Kristallpalastes.

Ein schwerer, süßer Duft ließ sie irgendwann innehalten. Hier waren all die kleinen und vergessenen Kammern, die je nach Zeit und Umständen mit anderen Dingen gefüllt wurden.
In dem ersten Jahr ihres Aufenthaltes im Palast, hatte sie es hier immer als recht unheimlich und spannend empfunden, in diesen Rumpelkammern herum zu stöbern. Aber die hellen vom Licht durchfluteten Räume des Kristallpalastes ließen sie diesen düsteren Bereich ihrer ersten Entdeckungsreisen irgendwann einmal vergessen, bis die Druidin von der Oberwelt sie wieder an diesen Flur erinnerte.
Es war der Duft ihrer Öle, der sie hier so vertraut umschmeichelte. Das schönste Gemach wollte Arkan für seinen ungewöhnlichen Gast herrichten lassen, aber die Oberweltlerin bat
stattdessen nach zwei Monden um eben einen dieser kleinen Räume. In all der Zeit, welche die schweigsame Druidin hier im Palast verbracht hatte, hatte sie den Hügelprinzen nie um irgendetwas gebeten, - außer um eben diese Kammer.

Fiacha schloss die Augen und atmete tief durch.

Flirrendes Zwielicht, goldgelbes Stroh und wirbelnder Staub. Dunkle Balken und wild flatternder Licht- und Schattentanz. Ein junges Mädchen, fast noch ein Kind. Das blonde, kurze Haar ist wirr, verklebt mit Schweiß, mit Blut und Heu. Das geflickte Leinenhemd ist zerrissen und hüllt auch krampfhaft zusammengerafft nur leidlich den geschlagenen und missbrauchten Körper.
Langsam, beinahe andächtig sammelt das Mädchen ihr Hab und Gut auf, das wohl vom Markttag stammte und verlässt den Stall mit steifem, aufgerichtetem Gang.

Gleißendes Licht. Hirtenwagen und Ziegenherden, die im Schatten eines kleinen Waldes vor der Mittagshitze Schutz suchen. Tiefgrüne Wiesen, verziert mit Teppichen aus verschwenderischer Blütenfarbpracht. Ein Fluss, dessen Blau nicht vom Himmel zu unterscheiden ist. Glitzernde Wasserperlen auf nackter, sonnengebräunter Haut. Lachende und planschende Kinder, und ein kleines Mädchen, das barfuss auf einen alten Baum zu rennt, um ihn zärtlich unter Tränen zu umarmen und zu verabschieden.

Die junge Frau weint. Sie trägt ein Lendentuch aus langem, farbenprächtigem Leinen und wirft kleine Habseligkeiten in das Lagerfeuer, vor dem sie steht. Die Nacht ist in feuchtem Nebel eingebettet. Sie zittert vor Traurigkeit und Kälte. und wendet sich der jungen dunkelhaarigen Frau zu, die ihr zärtlich eine nebelfeuchte Strähne aus der Stirn wischt, und mit einem letzten, zarten, sinnlichen Kuss Abschied nimmt, Die junge Frau löst das Lendentuch, wirft es in die Flammen und hüllt ihren zitternden Körper in das schlichte Gewand eines Druiden.

Fiacha schnappte nach Luft. Noch nie waren Bilder so schnell und klar vor ihrem inneren Auge vorbeigezogen. Sie öffnete die Augen und schaute sich erschrocken um. Das kleine Mädchen…die junge Frau…das alles waren Erinnerungen aus Chat Bidus früherem Leben, - aus ihrem Leben, bevor sie in das Hügelreich gekommen war.
Eine Träne kitzelte über ihre Wange und Fiacha wischte sie hastig weg. Sie war bestürzt über das, was sie gesehen hatte, - und gleichzeitig schämte sie sich dafür, Einblick in diese sehr privaten Augenblicke Chat Bidus gehabt zu haben. Sie verfluchte ihre "Gabe".
Unschlüssig stand sie nun vor der Türe zur Kammer der Druidin. Es drängte sie zu ihr zu gehen, sie in die Arme zu nehmen und ihre einsame Traurigkeit wegzuküssen.
Und doch wagte sie es nicht.
Wie ein Dieb schaute Fiacha sich um, als sich plötzlich die Tür zu Chat Bidus Kammer öffnete und die Druidin heraustrat.
Für einen Moment standen sich die beiden Frauen wie erstarrt gegenüber.
Das feuchte Schimmern in Fiachas Augen war Chat Bidu nicht entgangen, und sie runzelte leicht die Stirn.
Unzählige Gedanken schossen Fiacha durch den Kopf, bevor sie sich räusperte und schnell ein Lächeln auf ihr Gesicht zauberte, um diesem peinlichen Moment ein Ende zu setzen. Sie wollte gerade etwas sagen, als Chat Bidu ihr mit einem Nicken zuvor kam: "Prinzessin?"
Verwirrt darüber, diese knappe und kühle Begrüßung zu hören, antwortete die Mocha mit einem erstaunten: "Ja?"
Die Druidin blickte nach links und nach rechts in die dunklen Gänge, als suchte sie etwas.
"Was macht Ihr hier?" fragte sie, und der beinahe vorwurfsvolle Ton in ihrer dunklen Stimme ließ Fiacha das Blut in die Wangen steigen.
"Nichts," stammelte sie verlegen. "Ich bin nur zufällig hier vorbei gekommen." Die Hügelfrau wusste, in dem Augenblick, als sie den Satz beendet hatte, wie unsinnig diese Erklärung klingen musste.
Mit hochgezogenen Augenbrauen blickte Chat Bidu sie zweifelnd an.
"Hier?" fragte sie mit auffällig sanfter Stimme nach. "Zufällig?"
Heftig nickend beteuerte sie: "Ja, rein zufällig!" Nun redete Fiacha wie ein Wasserfall: " Ich wollte in diese Richtung," wahllos zeigte sie nach rechts, "aber dann folgte ich einem wunderbaren Duft, der aus dieser Richtung," sie zeigte nach links, "kam. Ja, und dann stand ich plötzlich vor dieser Tür!"
Chat Bidu konnte sich nur mühsam ein Lächeln verkneifen, als sie sah, wie die kleine Mocha wild, in alle möglichen Richtungen gestikulierend vor ihr stand und verzweifelt nach Erklärungen suchte.
"Und?" fragte sie weiter.
Fiacha hielt erstaunt inne.
"Und?" fragte sie zurück.
"Habt Ihr den Duft gefunden?"
Ein breites Lächeln erschien auf Fiachas Gesicht und mit großen Augen strahlte sie die Druidin an.
"Ja, habe ich! Und zwar kommt er von dort," und sie zeigte auf die Kammertür der Druidin. "Ich nehme an," fuhr Fiacha fort, "dass es eines Eurer Öle ist, das ich gerochen habe."
"Das ist durchaus möglich, Hoheit!" entgegnete Chat Bidu.
Fiacha entging es nicht, dass die Druidin bemüht war, höflich zu sein, - und sie spürte auch deutlich, dass Chat Bidu nicht in der Stimmung war Höflichkeiten auszutauschen.
Mit einem Mal erinnerte sie sich wieder der Bilder und Gefühle, die sie vor ein paar Minuten noch gesehen und empfunden hatte, und ihr wurde klar, dass dies nicht der Augenblick war, um Fröhlichkeit verbreiten zu können. Wohin auch immer Chat Bidu gerade gehen wollte, - Fiacha hatte das Gefühl, dass die Druidin alleine sein wollte. So gerne sie die Menschenfrau auch getröstet hätte, - wer war sie, Fiacha, denn schon, dass sie glaubte, ihr könnte es überhaupt gelingen?
Und wieder einmal verfluchte sie ihre "Gabe", - denn die Wunden, die sie sah, konnte sie nicht heilen, und die dunklen Momente der Vergangenheit nicht ungeschehen machen.
"Nun," murmelte die Mocha, "dann möchte ich Euch nicht länger belästigen und wünsche Euch einen angenehmen Abend."
Ohne die Druidin noch einmal anzusehen, ging sie schnell, ja, beinahe flüchtend den Gang hinunter. Immer noch sah sie die Bilder aus Chat Bidus Erinnerungen vor sich, und sie hatte das Gefühl, an dem Kloß in ihrem Hals ersticken zu müssen, als sie den Kreuzgang erreichte, - und sie rannte, so schnell sie konnte, die Treppe zu ihrem Gemach hinauf.

Irritiert blickte Chat Bidu der kleinen Hügelfrau hinterher. Sie glaubte, Fiacha inzwischen gut genug einschätzen zu können, dass zwischen der "Ölgeschichte" und ihren tränenfeuchten Augen noch ganz andere Sorgen lagen.
Morgen, - gleich Morgen würde sie versuchen in Erfahrung zu bringen, was die kleine Mocha so bedrückte. Und eine Lösung für ihr Problem finden.
Morgen, - aber nicht heute…

 

Wunden
Fiacha und Chat Bidu
Britta und Carolin Durchleuchter

 

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Stand:30.09.2010